„Wer braucht schon einen König? – Von der Sehnsucht nach dem Friedefürst“ (Gottesdienst vom 1. Advent 2024)
PREDIGTTEXT (Sacharja 9,9-10)
Beate: Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Eselin. Denn ich will die Wagen vernichten in Ephraim und die Rosse in Jerusalem, und der Kriegsbogen soll zerbrochen werden. Denn er wird Frieden gebieten den Völkern, und seine Herrschaft wird sein von einem Meer bis zum andern und vom Strom bis an die Enden der Erde.“
PREDIGT VON PFARRERIN DR. ANNEKE PEEREBOOM
Liebe Gemeinde!
Ein Freund von mir hat in diesem Jahr Abitur gemacht und ist nun für ein Jahr in Neuseeland. Ein ganz großer Traum ist damit in Erfüllung gegangen, ohne Zweifel! Trotzdem hat er Sehnsucht, hat er mir diese Woche erzählt. Sehnsucht nach der Adventszeit in Deutschland – vor allem nach Plätzchenbacken und Schnee. Stattdessen wird es dort nun langsam Sommer und die Menschen werfen den Grill an.
Wonach sehnen Sie sich in diesem Advent? Worauf freuen Sie sich besonders in den nächsten Wochen? Was erwarten Sie an Gutem in der Zeit bis Weihnachten?
Liebe Gemeinde! Ich frage jetzt einfach mal: Sehnen Sie sich nach dem Kommen eines Königs? Vermutlich nicht, oder? Ich meine, wenn ich mich mal hier umschaue, ist es doch so: Sie, die Niederländer unter uns, haben mit Willem-Alexander ja eigentlich schon einen ganz netten König. Beste gemeente! Mag ik vragen: verlangt u naar de komst van een koning? Waarschijnlijk niet, toch? Ik bedoel, als ik hier om me heen kijk, dan is het zo: Jullie, de Nederlanders onder ons, hebben al een hele mooie koning in Willem-Alexander.
Und Sie, unsere französischen Nachbarn, haben 1789 bekanntermaßen damit Geschichte geschrieben, wie Sie Ihren König erfolgreich für immer losgeworden sind… Mehr Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit für die Menschen Ihres Landes haben Sie errungen in Ihrer großen Revolution – wozu da bitte jetzt retro sein und wieder einen König ersehnen? Et vous, nos voisins français, vous êtes entrés dans l’histoire en 1789 en réussissant à vous débarrasser définitivement de votre roi… Vous avez obtenu plus de liberté, d’égalité et de fraternité pour les habitants de votre pays lors de votre grande révolution – à quoi bon être rétro et vouloir un autre roi ?
Sie, unsere amerikanischen Gäste sind traditionell ja ohnehin schon immer gerne ganz ohne König ausgekommen und haben außerdem gerade erst wieder einen neuen Präsidenten zum Oberhaupt Ihres großen Landes gewählt. You, our American guests, have traditionally always been happy to get along without a king and have also just elected a new president as head of your great country.
Und uns hier in Deutschland steht nach dem Bruch der Ampelkoalition eine Neuwahl für den Bundestag im Februar bevor.
Wir alle sehnen uns, so meine ich wahrzunehmen, eher nicht nach einem neuen König, sondern eher nach einem Ende von Chaos, Verunsicherung, Krise, Angst und Misslaune – danach, dass man uns in Ruhe und unser Leben leben lässt. Die größte Sehnsucht vieler Zeitgenossen besteht auch in diesem Jahr im Advent also wohl eher darin, ein wenig Zeit mit lieben Menschen verbringen zu können, es sich gemütlich zu machen, sich Glühwein und gebrannte Mandeln auf dem Weihnachtsmarkt schmecken zu lassen und „Rudolph the Rednosed Reindeer“ im Autoradio mitzusummen – wahlweise auch „Last Christmas“ – oder, wenn Sie lieber Klassik mögen, das „Jauchzet, frohlocket“ aus dem Weihnachtsoratorium. Das ist ja auch alles schön und gut, passt perfekt in die Jahreszeit und darf sein! Aber wenn Sie denken, dass das alles ist, was der Advent zu bieten hat, dann täuschen Sie sich – meiner Meinung nach. Wenn ich meinen Chef richtig verstehe, dann reicht ihm das nämlich nicht mit unserer heimeligen Adventsidylle. Gott träumt wesentlich größer für uns! Er hat Höheres im Sinn, wenn er uns im Advent auf unsere Sehnsüchte, Erwartungen und Hoffnungen anspricht. Er kennt unser Herz – besser als wir selbst. Er sieht hin, wo wir lieber wegsehen. Er weiß, dass hinter Kerzenschein und Lichterketten, altvertrauten Liedern, leuchtenden Kinderaugen, Plätzchenduft und dem unumgänglichen Wunsch nach weißer Weihnacht im Grunde noch etwas anderes, Tieferes, Wesentlicheres steht – nämlich die Sehnsucht nach Frieden! „Frieden auf Erden, den Menschen ein Wohlgefallen…“
Das ist eine ganz große Verheißung, die uns da an Weihnachten ereilt – die Aussicht auf Frieden – und zwar auf allen Ebenen unserer menschlichen Existenz! Frieden auf der internationalen Bühne zwischen den Ländern und Nationen, Frieden in Israel und im Libanon und im Gaza-Streifen, Frieden in der Ukraine, Frieden zwischen Ost und West, Nord und Süd, an allen Enden der Erde. Frieden, ach Frieden, auch in unserem eigenen Land und in unserem Volk, Frieden zwischen denen, die schon immer hier waren und denen, die neu angekommen sind, Frieden zwischen denen, die zu viel Arbeit haben und denen, die keine oder bald keine mehr haben, Frieden in den Schulen, auf den Bahnhöfen, Frieden zwischen denen, die Impfungen großartig finden und denen, die sie ablehnen, Frieden bei den Synagogen und bei denen, die in ihnen beten. Frieden nicht nur auf den Friedhöfen, sondern mitten im Leben! Und wenn wir schon dabei sind – wie wäre es mit Frieden mit unseren Mitgeschöpfen, Frieden in den Schlachthöfen und den Regenwäldern, Frieden mit diesem Planeten, der uns zur Bewahrung anvertraut ist?! Und bitte, bitte Herr, endlich, endlich auch Frieden in der Familie und unseren engsten Kreisen, ein Ende von Streit und Neid, Missverständnis, Verletzung und Kränkung. Frieden, Frieden, Frieden – auch in unserem eigenen unruhigen Herzen. Keine inneren Kämpfe mehr, kein Ringen und Hadern, kein verletzter Stolz, keine Hochmut, keine Kleinmut, keine Angst mehr vor dem Leben. Wie oft werden wir auf all diesen Ebenen der Angst nicht mehr Herr, und überlassen ihr das Regiment unseres Handelns?!
Dabei war sie doch noch nie ein guter Ratgeber! Mir scheint: Unfriede ist eine der ganz großen Konstanten unseres Menschseins. Nicht nur in unserer eigenen Zeit, sondern in jeder Generation, seit es Menschen gibt, bis zurück in die Steinzeit und zu Adam und Eva, als der eine Bruder den anderen erschlug. „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ Allein dass wir das unseren Herrgott fragen müssen…! All unsere Gesetze und Gebote, von „Du sollst nicht töten, stehlen, begehren, Ehe brechen…“ bis hin zu „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“, all unsere hochgeschätze Vernunft, all unsere gut aufgeklärten, philosophisch-ethischen Ideale, „edel zu sein, hilfreich und gut“ haben dem tiefen Unfrieden des Menschen kein endgültiges Ende setzen können. Wir haben die Bankrotterklärung des Menschen auf den Schlachtfeldern des 1. Weltkrieges gesehen, haben sie in Auschwitz gesehen und in Hiroshima und an so vielen anderen Orten – aller Bildung, aller Religion, aller Moral, allem Fortschritt zum Trotz. Die Gefängnisse sind nicht leerer geworden im Laufe der Jahrhunderte, die Familienstreitigkeiten nicht weniger, die Seele nicht getroster und gütiger. Wir sind mit all unseren Fähigkeiten, Erkenntnissen und Errungenschaften letztlich immer noch, was wir der Schilderung der Bibel zufolge von Anfang an waren: Sünder! „Denn wir verfehlen uns alle mannigfaltig“ (Jakobus 3,2), wie es im Jakobusbrief heißt, oder, wie Paulus es im Römerbrief ausdrückt: „Sie (die Menschen) sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben sollen“ (Römer 3,23).
Aber das Buch der Bücher bleibt nicht stehen bei der Analyse des Unfriedens, der unser Menschsein so fundamental begleitet, dass wir immer wieder in ihn hineinstürzen. Es zeigt uns einen Heilsweg auf, den Gott uns ebnet. Ich zitiere noch einmal den Römerbrief: „Sie (die Menschen) werden ohne Verdienst gerecht aus seiner (Gottes) Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.“ (Römer 3,23) Er ist – „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Johannes 14,6). Für mich heißt das – wir müssen diesen Weg zum wahren Leben, den Weg zur Erlösung von all dem Unfrieden, den die Bibel Sünde nennt, nicht selber bahnen und eine Schneise durch das Leid und die Last der Welt schlagen – das könnten wir gar nicht. Aber das brauchen wir auch nicht – der Weg zum Frieden wird uns geebnet und Gott selbst kommt uns auf ihm entgegen, um uns da abzuholen, wo wir stehen, mitten im Unfrieden unserer Welt und unseres Lebens. Der Advent, liebe Gemeinde, ist dabei genau der Zeitpunkt, an dem Gott ein unübersehbares Hinweisschild für uns aufrichtet, auf dem in großen Lettern „Frieden“ zu lesen steht. „Siehe!“ ist darum auch das Erste, was Gott sagt, um unseren Blick auf seinen Wegweiser zu lenken. „Sieh hin!“ „Siehe, dein König kommt zu Dir!“ Und nein, wir brauchen keine Angst zu haben, wer da bei uns einmarschiert! Wir dürfen uns sogar richtig freuen und jauchzen, weil er kommt. Denn der König ist, wie Sacharja schreibt, ein Gerechter und ein Helfer… Ich will die Wagen vernichten… und der Kriegsbogen soll zerbrochen werden! Denn er wird Frieden gebieten den Völkern…“
„Der Friedenskönig“ – so überschreibt die Lutherbibel denn auch die große Verheißung des Propheten Sacharja, die uns heute durch den Gottesdienst begleitet. Das Kommen eines Friedenskönigs, dessen Herrschaft Gerechtigkeit, Frieden und Freude mit sich bringt – das ist seine größte Sehnsucht. Dabei könnte auch Sacharja durchaus skeptisch gewesen sein, ob jemals ein König hält, was er verspricht. Er hat zwar Trump und Harris, Macron und Le Pen, Scholz, Merz, Höcke, Schoof und Wilders nicht kennengelernt, hatte aber auch so seine Erfahrungen mit politischen Eliten. Der König seiner Zeit hieß Alexander der Große. Um das Jahr 330 v.Chr. hatte er den gesamten östlichen Mittelmeerraum erobert mit seiner Armee, seinen Rossen und Streitwagen und Kriegsbögen. Diese Bilder eines großen Kriegers und seiner Militärmacht hat der Prophet vor Augen, als er, inspiriert von Gottes Geist, vom wahren Frieden träumt – von der Herrschaft eines kommenden Friedenskönigs, der kein Arsenal an Waffen braucht, um seine Herrschaft abzusichern. Dessen Kommen nicht Angst auslöst, sondern Freude. Ein Friedenskönig, der dem Unfrieden seine Grundlage nimmt, weil er nämlich Gerechtigkeit mit sich bringt, wo wahr wird, worauf der 85. Psalm hofft: „Dass Gerechtigkeit und Friede sich küssen.“ Das wird derjenige erfahren, der dem Friedenskönig Tür und Tor öffnet („Macht hoch die Tür, die Tor macht weit!“) und ihn einlässt – in sein Herz, sein Denken, Handeln und Hoffen. Sacharja selbst weiß im 4. Jh. v.Chr. noch nicht, wann dieser ersehnte Friedenskönig endlich kommen wird.
Aber er hält seine Sehnsucht wach und seine Hoffnung groß, weil er seinem Gott vertraut. Wie viel leichter müsste es da uns fallen nicht zu verzweifeln, sondern zu hoffen! Denn wir wissen ja, dass der Friedenskönig tatsächlich Einzug gehalten hat, in Jerusalem, auf dem Rücken eines Esels, dass er ohne Waffen kam, ohne Armee, gerüstet allein mit Glaube, Hoffnung und Liebe. Jesus kam im Frieden und brachte nichts als Frieden: „Frieden hinterlasse ich euch; meinen Frieden gebe ich euch. Nicht so, wie die Welt ihn gibt, gebe ich euch. Euer Herz erschrecke nicht und verzage nicht!“ (Johannes 14,27) – so versprach er es in einer seiner letzten Reden. Für mich heißt das – der Frieden ist da. In allem Unfrieden wächst ein Friedensreich in unserer Mitte.
In der Person Jesu Christi hat der Frieden in dieser Welt Einzug gehalten – „Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!“ Wir brauchen nicht auf eine kompetentere politische Führung zu warten, damit es endlich Frieden wird. Wir brauchen nicht auf ferne Regierungszentralen zu vertrauen oder auf die Stärke eines Heeres. All das macht nur eines – am Ende schürt es Angst unter Menschen. Wenn nicht meine, dann die des anderen – und diese Angst wird mich treffen wie Kains Stein. Warten und Hoffen und Vertrauen sollte ich trotzdem – und es gibt keine bessere Zeit als den Advent, um sich genau darin zu üben. Denn an Weihnachten, wenn wir die Ankunft des Friedenskönigs feiern dürfen, singen die Engel:
„Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden, den Menschen ein Wohlgefallen“. Vielleicht ist das die himmlischste Antwort, die unsere Sehnsucht jemals erhalten wird. Vielleicht werden wir es erkennen in diesem Jahr, vielleicht werden wir uns mit Tochter Zion freuen und mit Jerusalem jauchzen.