Liebe Gemeinde, ist Glauben eigentlich eine abgehobene Sache für Spinner? Für Leute, die nicht mit beiden Füßen auf dem Boden der Tatsachen stehen? Die die harte Realität nicht wahrhaben wollen, dass der Himmel leer ist und sich deshalb eine bessere Welt erträumen, anstatt sie mit ihrer Hände Arbeit auf dieser Erde selbst umzusetzen? So oder so ähnlich würden aufgeklärte Geister urteilen – und den Glauben an Gott als eine naive Träumerei abtun.
Liebe Gemeinde, ist der Traum, Fliegen zu können, eigentlich eine abgehobene Sache für Spinner? Für Menschen, die die harte Realität nicht wahrhaben wollen, dass wir physiologisch nicht aufs Fliegen ausgerichtet sind, dass die Schwerkraft der Erde uns stets auf den Boden der Tatsachen zurückholen wird und der Himmel als höhere Sphäre dem Göttlichen und den Göttern vorbehalten bleibt? So oder so ähnlich würden Menschen die längste Zeit ihrer Existenz geurteilt haben – und den Glauben daran, dass der Mensch vielleicht doch fliegen kann, als eine naive Träumerei abtun.
Ich persönliche, liebe Gemeinde, träume gerne. Vom Fliegen und davon, dass diese Welt nicht alles ist, was uns bleibt. Ich glaube ehrlich gesagt auch nicht, dass das ein Traum ist. Denn ich habe Menschen den Traum vom Fliegen leben sehen, und Gott – den habe ich am Werk gesehen. Oftmals.
Der Traum vom Fliegen gehört zu den stärksten Erinnerungen meiner Kindheit. Wieder und wieder habe ich ihn nachts geträumt. Wie ich aus meinem Bett aufstehe, mit meinem Nachthemd, und wie zum Spaß mit den Armen zu wedeln beginne, auf und nieder – wissend, dass es ein Spiel ist, das ich spiele. Dass ich natürlich nicht wirklich fliegen kann! Aber wie durch ein Wunder beginnen sich meine Füße plötzlich doch vom Boden zu heben und ich fange an zu schweben. Ich fliege zögernd, ungläubig, tastend, durchs Zimmer, fassungslos, dass das wirklich wahr sein soll. Aber ich falle nicht. Ich fliege. Darum öffne ich die Zimmertür und fliege hinaus in die Freiheit. Raus in den Garten meiner Eltern. Fliege über den Rasen, die Baumgipfel, über mir ist ein unendlicher Nachthimmel voller Sterne. Es war ein so pures Gefühl von Seligkeit, dass ich es heute noch in mir trage. Tagsüber habe ich in meiner Kindheit oft versucht, den Rausch des Fliegens wiederzufinden. Beim Schaukeln etwa, und dann am höchsten Punkt abspringen und schauen, wie weit man kommt. Beim Turnen am Stufenbarren, schwebend zwischen den Balken. Beim Fahren im Kettenkarrussell. Beim Trampolinspringen. Alles Ahnungen von Schwerelosigkeit, vom Loslassen, vom Fliegen. Berauschend. Aber am Ende doch kein Vergleich mit meinen nächtlichen Träumen. Leider währten sie nur so lange wie eine Kindheit. Dann verschwanden sie und kamen nicht mehr zurück.
Bis auf diese eine einzige Nacht, als alles noch einmal ganz genau so war wie damals, als ich noch klein war. Ich weiß nicht, was diesen Traum ausgelöst hat, der zur mir als Erwachsener zurückkehrte. Aber dieses eine Mal vom Fliegen träumen hat mir gezeigt, dass meine Erinnerung mich nicht trog. Und meine Freude genauso lebhaft und erfüllend war wie damals. Ein himmlisches Gefühl!
Der Traum vom Fliegen, liebe Gemeinde, hat aber nicht nur meine Kindheit begleitet, sondern die ganze Menschheit. Der sehnsuchtsvolle Blick in den Himmel gehört zu uns Menschen scheinbar untrennbar dazu. Aufgerichtet stehen wir zwischen Himmel und Erde, dem einen verhaftet, dem anderen zugewandt, von beiden Seite Impulse für unsere Seele und unser Leben empfangend. Das griechische Wort für „Mensch“ (ἄνθρωπος) meint in seiner Grundbedeutung genau dieses Aufgerichtet- und Ausgerichtetsein – wir Menschen sind dem Wesen nach „Hinaufschauende“. Wir sind nicht nur reine Erdenwesen, sondern haben einen Sinn für das Über-Irdische. Wir schauen in den Himmel und fragen uns unwillkürlich: Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Wir sehnen uns danach, den Himmel zu erobern, und gleichzeitig erinnert uns unsere eigene Begrenztheit, unsere Bindung an die Erde, unsere Schwer-Kraft, an unsere Endlichkeit.
„In den Lüften fahren ist den Menschen ein ungewöhnliches, ja, unmögliches Ding,“ befand noch der Reformator Martin Luther darum einst in einer Himmelfahrtspredigt: „Der Leib eines Menschen hat von Natur die Art, wie ein Stein oder ein anderes schweres Ding“.
Dennoch: Seit es Menschen gibt, scheinen sie Träume zu hegen, sich in die Lüfte erheben zu können wie Vögel. Oder sie erzählten sich Geschichten und Legenden von Menschen, die versuchten, den Himmel zu erobern. Die alten Griechen etwa berichteten von Daedalus und seinem Sohn Ikarus, die auf der Insel Kreta festgehalten wurden. Daedalus´ Einfallsreichtum verhalf ihnen zur Flucht: Mit Wachs und Federn stellten sie Flügel her, mit denen sie fliehen konnten. Ikarus aber war so berauscht von der Freiheit des Fliegens, dass er seine eigene Fragilität vergaß und zu nah an die Sonne heranflog. Sie schmolz das Wachs, das seine Flügel zusammenhielt, und er stürzte in die bodenlose Tiefe. Die Menschheitsgeschichte brachte mit der Zeit immer neue Ikarusse und Daedalusse hervor. Geniale Gelehrte, Erfinder und Tüftler wie Leonardo da Vinci beschäftigten sich ausgiebig mit der Beobachtung der Vögel, die er in einem eigenen „Kodex über den Vogelflug“ zusammenstellte. Das wiederum inspirierte „Vogelmenschen“ wie z.B. John Damian, der sich mit Hühnerfedern bestückt vor den Augen seines Königs vom Schloss Stirling in Schottland stürzte.
300 Jahre später versuchte der Schneider von Ulm mit einer Hängegleiter-Konstruktion die Donau zu überqueren – er scheiterte. Der Geist des Menschen kam nicht zur Ruhe, wenn es ums Fliegen ging. Den französischen Brüdern Montgolfier gelang eine bahnbrechende Erfindung – sie hoben 1783 mit einem Vorreiter der heutigen Heißluftballons ab und flogen damit immerhin schon mal 2 km weit – freilich erst, nachdem sie zuvor einen Hammel, eine Ente und einen Hahn als Versuchskaninchen vorausgeschickt hatten. Dies war der erste Schritt zur technischen Eroberung des Himmels mittels immer ausgereifterer, immer schnellerer, immer größerer Flugmaschinen, Luftfahrzeuge und Flugzeuge. Die Menschheit feierte diesbezüglich fulminante technische Erfolge – und erlebte zugleich auch immer wieder katastrophale Unglücke und tragische Verluste. Darunter zum Beispiel den Absturz der „Hindenburg“ am 6. Mai 1937 , als der riesige Zeppelin innerhalb von Sekunden komplett in Flammen aufging. Das Fliegen führt uns immer wieder vor Augen – wir Menschen sind und bleiben fragil. Verletzlich. Der Faszination des Fliegens wurden durch solche Rückschläge dennoch nie die Flügel gestutzt, waren eher Triebfedern für technische Neuerungen und Innovationen. Otto Lilienthal hatte Ende des 19. Jahrhunderts so lange den „Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst“ (und damit schlußendlich Gottes geniale Schöpfung)studiert, dass ihm erstmals ein kontrollierter langer Gleitflug mit einer Maschine gelang, die schwerer war als die Luft, die sie umgab. Die Brüder Wright fügten dem bald einen Motor hinzu und die Geschichte der Luftfahrt nahm in rasantem Tempo an Fahrt auf.
Sie hier vom Aero-Club wissen viel besser als ich, welche technischen Neuerungen dem noch alles folgen sollten. (Ich persönlich kann nur sagen: Ich habe sie teilweise auch in meiner eigenen Lebensspanne noch mit verfolgt – mein Vater, ein alter Seefahrer und Steuermann, war noch als Navigator bei der Lufthansa mit dem Sextanten als vierter Mann im Cockpit mitgeflogen, um die Maschine nach den Sternen sicher über den Pol zu lotsen. Heute tut ein Auto-Pilot das im Alleingang, wenn gewünscht.) Menschen sind zum Mond geflogen, und – nur mit einem Schutzanzug und einem Fallschirm ausgestattet, bei einem Stratosphärensprung schneller als der Schall gewesen. Menschen haben in den vergangenen 100 Jahren den Luftraum für sich und ihre kommerziellen, touristischen und militärischen Zwecke entdeckt und erobert – und neben grandiosen Fortschritten und Errungenschaften dabei auch in jeder Hinsicht nebenbei beträchtlichen Schaden angerichtet.
Was sie nicht erobert haben, ist der Himmel. Der Himmel ist uns über. Ist Wohnstatt dessen, was heilig ist, erhaben, gut und hell. Ist Sehnsuchts- und Hoffnungsort, ist Gottes Reich – zumindest wenn wir bei der Verwendung des deutschen Wort „Himmel“ nicht die beiden englischen Begriffe „sky“ und „heaven“ verwechseln. Sky ist der Raum, in den uns ein Flugzeug transportieren kann, bis über die Wolken. Heaven ist der Raum, in den mich das Gebet transportieren kann, die Stille, die Musik, die Liebe, die Erfahrung von Gottes Gegenwart. Diese berauschende Leichtigkeit, diese Freiheit, die Weite und das Licht, die beim Fliegen mit einer der Maschinen in den Himmel (sky) sicherlich in anderer Weise spürbar und erfahrbar wird, nur viel kontrollierter, denke ich und viel äußerlicher als beim Fliegen im „Heaven“. „Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, würde auch dort deine Hand mit mir sein und deine Rechte mich halten, Herr,“ bekennt der Beter des 139. Psalms Gott.
Ich glaube, als ich ein Kind war, bin ich nachts im Himmel gewesen, im Sinne von „heaven“. Getragen und gehalten und geliebt, haben mir diese Träume einen Vorgeschmack auf den Himmel verschafft. Auf Gottes Himmelreich. Ich denke, Glauben ist für die Seele wie Fliegen mit dem Flugzeug für den Körper. Er entrückt in höhere Sphären. Er betrachtet die Dinge aus einer anderen, aus einer höheren Perspektive. Glauben braucht manpower und Antrieb, so wie ein Flugzeug auch. Glaube ist das Flugzeug der Seele.
Der Mensch hat Fliegen gelernt – obwohl man das jahrhundertelang immer als Spinnerei und Hybris abgetan hat. Der Mensch wird auch weiter glauben – egal wer das als abgehobene Spinnerei und realitätsferne Träumerei abtut. Denn wer fliegt, ist frei. Wer glaubt, auch. Wer fliegt, lässt etwas hinter sich. Wer glaubt, auch. Wer fliegt, braucht Vertrauen und muss sich investieren, damit es gelingt. Wer glaubt, braucht auch Vertrauen und muss sich investieren, damit es gelingt. Vieles ist sich ganz ähnlich bei der Sehnsucht zu fliegen und beim Glauben an Gott. Als jemand, der glaubt, würde ich sagen – was mich beflügelt, ist nicht nur die Sehnsucht, es ist die Antwort auf meine Sehnsucht. Weil mein Leben für mich nur Sinn ergibt, wenn der Himmel nicht leer ist, sondern Gott darin wohnt und Jesus dort Herr ist über eine bessere, gerechtere, friedlichere, liebevollere Welt die uns offensteht. Nicht weil wir uns überheben, sondern im Gegenteil – weil wir vor dieser Einsicht demütiger werden.
Ich habe mit Gott übrigens einen kleinen Deal gemacht. Ich werde wieder fliegen, zumindest noch einmal. Werde eines Tages für immer einschlafen und dann nachts im Traum aus meinem Bett aufstehen, mit meinem Nachthemd, und wie zum Spaß mit den Armen zu wedeln beginnen, auf und nieder – wissend, dass es ein Spiel ist, das ich spiele. Dass ich natürlich nicht wirklich fliegen kann!
Aber wie durch ein Wunder beginnen sich meine Füße plötzlich doch vom Boden zu heben und ich fange an zu schweben. Ich fliege zögernd, ungläubig, tastend davon, aus diesem Leben fassungslos, dass das wirklich wahr sein soll. Aber ich falle nicht. Ich fliege. Das heißt, ich fliege nicht. Ich werde emporgehoben in diesen unendlichen Nachthimmel voller Sterne. Ich fliege zu dem, der dort schon auf mich wartet, im Königreich der Himmel, und stelle ihm all die Fragen, auf die ich hier keine Antwort gefunden habe.
Und der Friede Gottes…