Horizonte

 

Liebe Leserinnen und Leser,

hier unten reicht die Sicht nicht weit. Gedränge vor der Kasse. Man könnte Platzangst bekommen. In der Kabine ist es auch nicht viel luftiger. Aber zum Glück gibt es einen Fensterplatz. Und dann schwebt sie los, die Seilbahn.

Was für ein erhebendes Gefühl. Der Blick schweift nach unten auf die Tal-Station, wo eben alles noch so eng war. Die Dächer des Dorfes werden immer kleiner. Mit jedem Augenblick weitet sich der Horizont: übers Tal, zu den Bergen hinauf. Schließlich oben angekommen, in großer Höhe, auf der Aussichtsplattform: was für ein Ausblick – Berge über Berge, Täler und Seen.
Der äußere Weitblick weitet auch die Seele. Es hat etwas Spirituelles. Man ist dem Himmel näher.

Auch in der Bibel spielen Berge eine wichtige Rolle: Sie sind Orte der Gottes-Begegnung. Mose hat auf dem Berg Horeb Kontakt mit „JHWH“ (Jahwe). Als „Ich bin, der ich bin“ offenbart sich ihm der Gott, den Jesus später Abba (Papa) nennt. Daraus entsteht das „Vaterunser“. Christi Himmelfahrt wird in den Evangelien auf dem Ölberg bei Jerusalem verortet.

Weite Horizonte hatten und haben weitreichende Folgen für unser Leben. Aber was nützt einem der größte Sichtkreis auf einem Berg, wenn man auf dem Höhenweg, von der schönen Aussicht abgelenkt, hinstürzt.

Der Horizont in einem Krankenbett ist dagegen ziemlich eingeschränkt. Doch eine uralte Erfahrung zeigt, dass sich bei äußerer Enge früher oder später innere Weiten auftun: wenn wir ein Buch lesen oder sinnieren; wenn wir innerlich beten oder in Gedanken mit Menschen reden.

Dietrich Bonhoeffer hat dies in Einzelhaft unter der Nazi-Diktatur erfahren. Er fühlte sich im Allein-Sein von guten Mächten wunderbar geborgen. Und er meinte damit nicht zuerst die Engel, sondern seine lieben Menschen, die zwar nicht im Raum waren, aber doch bei ihm – nicht mit Augen zu sehen, aber im Herzen zu spüren.

Jeder Horizont als scheinbare Grenze erinnert uns auch an unsere Begrenztheit in Zeit und Raum. Wir können nicht jederzeit überall sein, sondern nur im Hier und Jetzt. Darum sehen wir Horizonte, die wir zwar erweitern, aber niemals erreichen können.

In der Bibel heißt es: Gott hat die Ewigkeit in des Menschen Herz gelegt (Prediger 3, 11). Es gibt in uns eine Sehnsucht nach Weite. Wir sind neugierig auf das, was wohl hinter einem Horizont zu finden ist. Gerade wenn es eng wird in unserem Leben. Udo Lindenberg hat es in einem Lied treffend ausgedrückt: „Hinterm Horizont geht’s weiter …“

Das ist nicht nur eine physikalische Tatsache, sondern auch christliche Glaubensüberzeugung. Paulus hat das, was durch keinen Horizont begrenzt wird, so formuliert: „Die Liebe hört niemals auf“ (1. Korinther 13, 8). Darum werden auch wir niemals aufhören, weil wir Geliebte und Liebende sind. So werden Horizonte zu Platzhaltern für Gottes Ewigkeit.

Wie eng oder weit unser jeweiliger Horizont auch sein mag, das Beste haben wir immer noch vor uns, indem wir mit dem Vaterunser beten: „Dein Reich komme.“

Ihr und euer Pfarrer Frank Seeger