Vom Umgang mit Widersprüchen

Aus der Studienarbeit von Pfarrer Frank Seeger

„Es ist eine Erlösung“, sagt der alte Mann erleichtert. „Gott sei Dank!“ Kurz darauf seufzt er und schluchzt: „Sie wird mir fehlen. Warum hat Gott sie mir genommen?“ Der Mann hatte seine schwerkranke Frau lange gepflegt. Nun war sie eingeschlafen. Wie passen die Worte des trauernden Mannes zusammen? Drücken sie doch einander widersprechende Empfindungen aus. Der Mann ist einerseits Gott dankbar. Anderseits beklagt er sich bei ihm. Die ambivalenten Gefühle lassen sich nicht harmonisieren und sind doch beide wichtig. Sie machen Sinn, ergänzen einander. Gerade in ihrer Widersprüchlichkeit machen sie das Unfassbare fassbarer. Der Trauernde fokussiert ein und dasselbe Geschehen mit verschiedenen Einstellungen und kommt so zu gegensätzlichen Resultaten. Einerseits Dank, andererseits Klage. Das eine hebt das andere nicht auf. Beide ergänzen sich. Aber beides ist niemals gleichzeitig zu fassen.
Entweder ist der Dank fühlbar, oder die Klage. Beides lässt sich auch nicht vermischen. Schließlich gibt es keine dankbare Klage oder klagende Dankbarkeit. Wenn wir von `gemischten Gefühlen´ sprechen, bezeichnet dies eigentlich ein Gefühlsdilemma. Doch es gibt eine typische, bezeichnende Weise, damit umzugehen: Wenn der Trauernde Dankbarkeit spürt, tritt die Klage in den Hintergrund. Ist umgekehrt die Klage im Vordergrund, wird der Dank unscharf.

Es ist wie bei einem Fernglas: entweder man stellt die Blumen im Vordergrund scharf, dann verschwimmen die Berge im Hintergrund. Oder man sieht die Berge klar und die Blumen sind unscharf. Und doch ist beides zusammen in ein und derselben Landschaft.

Im Problem des alten Mannes steckt die grundsätzliche Frage, wie wir mit den Widersprüchen des Lebens umgehen können, die sich beim besten Willen nicht auflösen lassen. Aushalten oder verdrängen? Die verblüffende Antwort aus der Quantenphysik lautet: Erhebe den Widerspruch zum Prinzip! Akzeptiere die Gegensätze und setze sie in Beziehung. Für den Quantenphysiker Werner Heisenberg ist dieser komplementäre Ansatz „keineswegs auf die Welt der Atome beschränkt“. Auch in den Geisteswissenschaften sind immer wieder komplementäre Prinzipien zu finden. Angefangen von der altgriechischen Philosophie über das Neue Testament oder Luthers Theologie, bis zur Psychologie C.G. Jungs. Komplementarität bedeutet `Ergänzung sich ausschließender Gegensätze´.

In der Wahrnehmungspsychologie ist das wohl anschaulichste Beispiel für Komplementarität die sogenannte Rubinsche Vase.
Dieses Kippbild wird dem dänischen Psychologen Edgar J. Rubin zugeschrieben. Das Bild `kippt´ für den Betrachter in jeweils einen `Zustand´. Entweder ist eine Vase zu sehen oder zwei Gesichter, je nachdem, ob man sich auf die weiße oder auf eine schwarze Fläche konzentriert. Der Fokus des Betrachters entscheidet über das Bild, das entsteht. Sieht er die Vase, werden die Gesichter unscharf und umgekehrt. Auf die Frage „Was zeigt das Bild?“, lautet die Antwort: Eine Vase und zwei Gesichter. Aber wir können immer nur das eine oder das andere bewusst wahrnehmen.

Mit Blick auf das menschliche Wesen wird seit alters darüber gestritten, ob der Mensch nun grundsätzlich gut oder böse sei. Auch hier ist eine komplementäre Antwort die angemessenste: Der Mensch ist gut und böse. Wir können Engel oder Teufel sein. In der jeweiligen Situation entscheidet sich, was in uns zum Vorschein kommt. Paulus sagt im Römerbrief (12,21): „Laß dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ Dieses Wort setzt zwei Überzeugungen voraus: zum einen das Wissen des Menschen um Gut und Böse, zum anderen die menschliche Willensfreiheit, sich für das eine oder das andere zu entscheiden. Damit steht Paulus in der Tradition `der Schrift und der Propheten´ und der Verkündigung Jesu.

Aus der Bibel und der aktuellen Forschung, ergibt sich ein Vexierbild vom guten Menschen und Sünder zugleich. Es ist nicht aufzulösen – auch theologisch nicht. Doch geht es auch nicht um Auflösung, sondern um Erlösung. Denn dazu ist Gott Mensch geworden: nicht um Rätsel zu lösen, sondern uns zu erlösen. In Jesaja 43,1 spricht Gott: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst.“ Erlösen meint hier `auslösen´, aus Knechtschaft `befreien´. Es geht darum, uns zu befreien, wie es einst der Psalmist empfand: „Er führte mich hinaus ins Weite, er riß mich heraus; denn er hatte Lust zu mir“ (Ps 18,20). Erlösung heißt Befreiung aus der Gefangenschaft der Selbstbezogenheit in die Weite der Beziehung – zu Gott, den Menschen und der Schöpfung. Hinter dem Evangelium steht ein Gott, der Gefallen an uns Menschen hat, der uns aus der Beziehungslosigkeit befreit, indem er in Beziehung kommt zu uns – auf Augenhöhe: in Jesus Christus, seinem Wort an uns. Und er wartet auf eine Antwort von uns. Wenn uns die Widersprüche des Lebens in Beziehung bringen, dann machen sie Sinn, dann dienen sie uns zum Besten. Dann brauchen wir sie nicht nur auszuhalten, dann können wir sie fruchtbar machen.

Von daher ist eine komplementäre Zusammensetzung von Gremien grundsätzlich sinnvoll: Frauen und Männer, Junge und Alte, Akademiker und Handwerker, etc. Ebenso, wenn in Diskussionen gegensätzliche Positionen zur Geltung kommen, bevor Entscheidungen getroffen werden. Der Kommunikationsprozess ist mindestens so wichtig wie das Resultat. Auch hier ist der Weg das Ziel. Wie einst für Jesu Jünger, die unterwegs waren nach Emmaus: Sie begegnen, angesichts des Todes Jesu, als sie es am wenigsten erwarten, dem Lebendigen, dem Auferstandenen. “Brannte nicht unser Herz …“ (Lk 24,32) fragen sie, spüren sie, erkennen sie. Widersprüche müssen nicht die Mühlsteine sein, die uns zerreiben, sie können zu Feuersteinen werden, die unser Herz entflammen.

 

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