„Was bleibt?“

Predigt – Einleitung

Liebe Gemeinde! Ein kleiner Herbstzyklus geht heute zu Ende, der uns durch Bücher geführt hat, die Antworten suchen auf einige der ganz großen Fragen der Menschheit. Fragen wie: „Was ist der Sinn des Lebens?“ oder „Was trägt?“.

Nun, im Monat November angekommen, in dem das Kirchenjahr zur Neige geht, in dem wir den Ewigkeitssonntag begehen, der Toten gedenken und die Gräber unserer Liebsten besuchen, da soll uns die Frage „Was bleibt?“ durch diesen Literaturgottesdienst begleiten. Denn wenn wir unser Leben in dem Bewusstsein leben und gestalten, was von uns und unserer Zeit einmal bleibt, dann mag uns dies dabei helfen, das, was ist, mit anderen Augen zu sehen. Vielleicht die eine oder andere Entscheidung anders zu treffen und nach anderen Prioritäten zu handeln. Möglicherweise liebevoller und gnädiger zu verfahren mit dem, was uns an Zeit gegeben ist und mit den Menschen, mit denen wir unsere Zeit teilen. Zumindest hoffe ich, dass die folgenden Gedanken und Geschichten uns dazu inspirieren – und dass etwas von Gottes gutem Geist, seiner frohen Botschaft für uns und unser Leben, von Freiheit und Erlösung darin erfahrbar und greifbar wird für euch.

Gott segne unser Reden, Hören und Verstehen. Amen!

Gedankengang 1: „Zeit haben“ – was Momo und Beppo Straßenkehrer uns über den Umgang mit unserer Lebenszeit lehren könnenFür meinen Geschmack hat sich kaum jemand jemals so weise mit dem rätselhaften Zauber der Zeit befasst wie Michael Ende in seinem Roman „Momo“ – ein Buch, das mich von Kindheitstagen an getreulich begleitet hat, dessen Worte ich zum guten Teil mitsprechen könnte, so unendlich vertraut sind sie mir von unzähligen Stunden, die ich gespannt und fasziniert vor meinem kleinen Fisher-Price-Kassettenrekorder gekauert habe, um Momos Geschichte zu verfolgen. Es ist eines dieser ganz wenigen Bücher, dem es gelingt, Kinder mit seiner Spannung gefangen zu nehmen und gleichzeitig Erwachsene auf einer tieferen Bedeutungsebene anzusprechen. „Momo“ hat den Deutschen und Europäischen Jugendbuchpreis gewonnen, ist aber für meinen Geschmack viel mehr als nur ein gutes Kindermärchen – es ist eine Art Lebensphilosophie. Sie erinnert uns Große daran, dass Kinder mitunter intuitiv besser erkennen als wir selbst, was wesentlich im Leben ist und dass sie darum gemeinhin einen weiseren Umgang mit ihrer Zeit pflegen, als wir das oft tun. Jesus hat das ja mitunter ähnlich ausgedrückt – dass den Kindern das Reich Gottes gehört (Markus 10, 13-16) und dass uns, wenn wir nicht werden wie die Kinder, das Himmelreich verschlossen bleiben wird (Matthäus 18, 3).

Momo ist eines dieser Kinder, denen das Reich Gottes gehört, glaube ich, ein Kind, dem wir ähnlich werden sollen, um mehr vom Himmel in unserem Leben zu spüren und andere dahin mitzunehmen. Eigentlich ist Momo gar nichts Besonderes, nur ein struppiges kleines Mädchen, das am Rande einer großen Stadt in den Ruinen eines alten Amphitheaters lebt. Michael Ende beschreibt sie so:

 Erzähler: „Momos äußere Erscheinung war in der Tat ein wenig seltsam und konnte auf Menschen, die großen Wert auf Sauberkeit und Ordnung legen, möglicherweise etwas erschreckend wirken. Sie war klein und ziemlich mager, so dass man beim besten Willen nicht erkennen konnte, ob sie erst acht oder schon zwölf Jahre alt war. Sie hatte einen wilden, pechschwarzen Lockenkopf, der so aussah, als ob er noch nie mit einem Kamm oder einer Schere in Berührung gekommen wäre. Sie hatte sehr große, wunderschöne und ebenfalls pechschwarze Augen – und Füße von der gleichen Farbe, denn sie lief fast immer barfuß. Nur im Winter trug sie manchmal Schuhe, aber es waren zwei verschiedene, die nicht zusammenpassten und ihr außerdem viel zu groß waren. Das kam daher, dass Momo eben nichts besaß, als was sie irgendwo fand oder geschenkt bekam. Ihr Rock war aus allerlei bunten Flicken zusammengenäht und reichte ihr bis auf die Fußknöchel. Darüber trug sie eine alte, viel zu weite Männerjacke, deren Ärmel an den Handgelenken umgekrempelt waren. Abschneiden wollte Momo sie nicht, weil sie vorsorglich daran dachte, dass sie ja noch wachsen würde. Und wer konnte wissen, ob sie jemals wieder eine so schöne und praktische Jacke mit so vielen Taschen finden würde.“

In all ihrer Einfachheit besitzt die kleine Momo eine ganz außergewöhnliche Gabe, die dazu führt, dass sie fast ständig Besuch hat und viele Menschen aus der näheren Umgebung bei ihr Rat suchen. Zwar war das Mädchen weder auffallend klug, noch künstlerisch begabt, aber es gab eine Sache, die sie konnte wie niemand sonst: Zuhören. Mit aller Aufmerksamkeit und Anteilnahme.

Erzähler: „Momo konnte so zuhören, dass dummen Leuten plötzlich sehr kluge Gedanken kamen. (…) Sie konnte so zuhören, dass ratlose oder unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten. Oder das Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten. Oder das Unglückliche und Bedrückte plötzlich zuversichtlich und froh wurden. Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter Millionen, einer auf den es überhaupt nicht ankommt und der ebenso schnell ersetzt werden kann wie ein kaputter Topf – und er ging hin und erzählte alles das der kleinen Momo, dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, dass er sich gründlich irrte, dass es ihn, genauso wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und dass er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war. So konnte nur Momo zuhören!“

So zuzuhören, das vermag wohl nur jemand, der ein ganz besonderes Verhältnis zur Zeit hat, denke ich. Jemand, der ganz und gar im Augenblick lebt, und bereit ist, dem Menschen, der jetzt gerade bei ihm ist, seine Zeit und damit seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken. Der anderen seine Zeit zuwidmet – und ihnen dadurch Gehör schenkt, sie erhört und ihnen so mitten ins Herz sieht. Und das ist nun wirklich und wahrhaftig eine ganz außergewöhnliche und seltene Gabe – eine, die ich persönlich nur von sehr, sehr guten Seelsorgern oder sehr, sehr guten Freunden kenne. Kein Wunder, das Momo so viele davon hatte – so viele gute Freunde. Denn wer wüsste es nicht zu schätzen, wenn jemand einem wirklich zuhört, ohne Belehrung, ohne eigene Agenda, ohne Hintergedanken? Momos besondere Fähigkeit, den Moment hier und jetzt zur wichtigsten und erfülltesten Zeit überhaupt werden zu lassen, wird übrigens nicht nur in der Weise deutlich, wie sie zuhört. Auch bspw. darin, wie sie spielt und die Kinder alle Langeweile vergessen lässt durch die Kraft der Phantasie. Mit Momo kann man die Zeit ganz und gar vergessen kann, weil sie nicht von ihr gedrängt und bedrängt wird. Sie lebt einfach.

Noch einen Menschen aus Momos Umfeld möchte ich Euch gerne vorstellen, weil auch er einen ganz besonderen Umgang mit der Zeit pflegt: Es ist der alte Beppo Straßenkehrer, einer von Momos allerbesten Freunden.

Erzähler: „Manche Leute waren der Ansicht, Beppo Straßenkehrer sei nicht ganz richtig im Kopf. Das kam daher, dass er auf Fragen nur freundlich lächelte und keine Antwort gab. Er dachte nach. Und wenn er eine Antwort nicht nötig fand, schwieg er. Wenn er aber eine Antwort für nötig hielt, dann dachte er über diese Antwort nach. Manchmal dauerte es zwei Stunden, mitunter aber auch einen ganzen Tag, bis er etwas erwiderte. Inzwischen hatte der andere natürlich vergessen, was er gefragt hatte und Beppos Worte kamen ihm wunderlich vor. Nur Momo konnte so lange warten und verstand, was er sagte. Sie wusste, dass er sich so viel Zeit nahm, um niemals etwas Unwahres zu sagen. Denn nach seiner Meinung kam alles Unglück der Welt von den vielen Lügen, den absichtlichen, aber auch den unabsichtlichen, die nur aus Eile oder Ungenauigkeit entstehen.“

Beppo war von Beruf Straßenkehrer und verrichtete seine Arbeit langsam, aber stetig: Bei jedem Schritt einen Atemzug und bei jedem Atemzug einen Besenstrich. Schritt – Atemzug – Besenstrich. Strich – Atemzug – Besenstrich.  Zu Momo sagte er einmal:

Beppo: „Es ist so: Manchmal hat man eine sehr lange Straße vor sich. Man denkt, die ist so schrecklich lang; das kann man niemals schaffen, denkt man. (…). Und dann fängt man an, sich zu eilen. Und man eilt sich immer mehr. Jedes Mal, wenn man aufblickt, sieht man, dass es gar nicht weniger wird, was noch vor einem liegt. Und man strengt sich noch mehr an, man kriegt es mit der Angst und zum Schluss ist man ganz außer Puste und kann nicht mehr. Und die Straße liegt immer noch vor einem. So darf man es nicht machen. (…) Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst, Du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur an den nächsten. (…) Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein.“

Sowohl Momo als auch Beppo Straßenkehrer leben uns einen ganz besonderen, bewussten, seltsam unaufgeregten Umgang mit der Zeit vor. Der Satz „Ich habe keine Zeit“ käme ihnen wohl nie über die Lippen. Von Jesus ist er übrigens auch nicht überliefert, soweit ich weiß. Und dabei hatte der wirklich viel zu tun. Die Welt retten, Wunder tun, Ihr wisst schon. Aber irgendwie hatte er trotzdem Zeit – für den Menschen, der ihm gerade begegnete, um zuzuhören, mit ihm den nächsten Schritt zu gehen zum Reich Gottes.

Wie mein Leben wohl aussähe ohne den Satz: „Dafür habe ich leider keine Zeit“?

Vortragslied: „Feldeinsamkeit“ von Brahms

 Gedankengang 2:  „Zeit als Investition“ – die grauen Herren und wie sie Menschen wie Herrn Fusi die Zeit stehlen

 Erzähler: „Es gibt ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis. Alle Menschen haben daran teil, jeder kennt es, aber die wenigsten denken je darüber nach. Die meisten Leute nehmen es einfach so hin und wundern sich kein bisschen darüber. Dieses Geheimnis ist die Zeit. Es gibt Kalender und Uhren, um sie zu messen, aber das will wenig besagen, denn jeder weiß, dass einem eine einzige Stunde wie eine Ewigkeit vorkommen kann, mitunter kann sie aber auch wie ein Augenblick vergehen – je nachdem, was man in dieser Stunde erlebt. Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen.  Und genau das wusste niemand besser als die grauen Herren. Niemand kannte den Wert einer Stunde, einer Minute, ja einer einzigen Sekunde Leben so wie sie. Freilich verstanden sie sich auf ihre Weise darauf, so wie Blutegel sich aufs Blut verstehen und auf ihre Weise handelten sie danach. Sie hatten ihre Pläne mit der Zeit der Menschen. Es waren weit gesteckte und sorgfältig vorbereitete Pläne. Das Wichtigste war ihnen, dass niemand auf ihre Tätigkeit aufmerksam wurde. Unauffällig hatten sie sich im Leben der großen Stadt und ihrer Bewohner festgesetzt. Und Schritt für Schritt, ohne dass jemand es bemerkte, drangen sie täglich weiter vor und ergriffen Besitz von den Menschen.“

 Die grauen Herren arbeiten höchst rational und denken sehr effizient. Zeit ist in ihrer Sichtweise ein knappes und deswegen höchst kostbares Gut, das bewusst investiert und an anderen Stellen eingespart werden will. Sie ermuntern die Menschen, ihre Zeit nicht zu vergeuden oder an andere zu verschwenden, sondern lieber mehr an sich selbst zu denken. Und das verändert die Menschen in der großen Stadt nachhaltig. Wie bspw. Herrn Fusi, den Frisör, den sie sich an einem grauen Regentag vornahmen, als auch in Herrn Fusis Seele gerade trübes Wetter herrschte.

Herr Fusi: Mein Leben geht so dahin mit Scherengeklapper und Geschwätz und Seifenschaum. Was habe ich eigentlich von meinem Dasein? Und wenn ich einmal tot bin, wird es sein, als hätte es mich nie gegeben. (…) Mein ganzes Leben ist verfehlt. Wer bin ich schon? Ein kleiner Frisör, das ist nun aus mir geworden. Wenn ich das richtige Leben führen könnte, dann wäre ich ein ganz anderer Mensch! (…) Aber dazu lässt mir meine Arbeit keine Zeit. Denn für das richtige Leben muss man Zeit haben. Man muss frei sein. Ich aber bleibe mein Leben lang ein Gefangener von Scherengeklapper und Geschwätz und Seifenschaum.“

Wie dieses sogenannte „richtige“ Leben allerdings beschaffen sein sollte, von dem er da träumte, war Herrn Fusi nicht klar. Er stellte sich nur irgendetwas Bedeutendes vor, etwas Luxuriöses, etwas, wie man es immer in den Illustrierten sah. Während Herrn Fusi so seinen trüben Gedanken nachging, fuhr plötzlich ein feines, aschengraues Auto vor und hielt genau vor seinem. Frisörgeschäft. Ein grauer Herr stieg aus und betrat den Laden. Er stellte seine bleigraue Aktentasche auf den Tisch vor dem Spiegel, hängte seinen runden, steifen Hut an den Kleiderhaken, setzte sich auf den Rasierstuhl, nahm sein Notizbüchlein und begann darin zu blättern, während er an seiner kleinen grauen Zigarre paffte. Herr Fusi schloss die Ladentür, denn ihm war, als würde es plötzlich ungewöhnlich kalt in dem kleinen Raum.„Womit kann ich dienen? Rasieren oder Haare schneiden?“ fragte Herr Fusi. Und. Der graue Herr antwortete:

Grauer Herr: „Keines von beidem. Ich komme von der Zeit-Spar-Kasse. Ich bin Agent Nr. YXQ/384/b. Wir wissen, dass sie ein Sparkonto bei uns eröffnen wollen. Sie sind doch Herr Fusi, der Friseur?“

So beginnt das Gespräch der beiden, in dessen weiteren Verlauf der graue Herr eine ebenso schonungslose wie ernüchternde Bilanz von Herrn Fusis Umgang mit seiner Lebenszeit zieht. Im Moment vergeude er nur sein Leben mit Scherengeklapper, Geschwätz und Seifenschaum. Wenn er einmal tot sei, würde es sein, als hätte es ihn nie gegeben. Nichts von ihm würde bleiben. Wenn er hingegen mehr Zeit hätte, um das richtige Leben zu führen, wäre er ein ganz anderer Mensch. Alles, was er dafür benötige sei: Zeit. Deswegen dürfe er die seine nicht länger in verantwortungsloser Weise vergeuden, sondern müsse sie bewusst einsparen. Und dann macht der graue Herr eine Rechnung auf: Bei einer Lebenserwartung von ca. 70 Jahren stünde Herrn Fusi ein Vermögen von 2 Milliarden 207 Millionen 520 Tausend Sekunden zu. Herr Fusi staunt über den Reichtum an Zeit, der ihm da zur Verfügung steht. Aber der graue Herr relativiert sofort: Herr Fusi sei bereits 42 Jahre alt, schlafe durchschnittlich 8 Stunden die Nacht und gehe etwa die gleiche Zeit seiner Arbeit nach, da gehe schon ganz viel Zeit verloren.

Grauer Herr: „Fahren wir fort! Sie leben allein mit Ihrer alten Mutter, wie wir wissen. Täglich widmen sie der alten Dame eine volle Stunde, das heißt, Sie sitzen bei ihr und sprechen mit ihr, obgleich sie taub ist und kaum noch hört. Es ist also hinausgeworfene Zeit. Ferner haben Sie überflüssigerweise einen Wellensittich, dessen Pflege Sie täglich eine Viertelstunde kostet. (…). Wir wissen ferner, dass Sie einmal wöchentlich ins Kino gehen, einmal wöchentlich in einem Gesangsverein mitwirken, einen Stammtisch haben, den Sie zweimal in der Woche besuchen, und sich an den übrigen Tagen abends mit Freunden treffen oder manchmal sogar ein Buch lesen. Kurz, Sie schlagen Ihre Zeit mit nutzlosen Dingen tot.“

Hinzu komme noch die halbe Stunde täglich, in der Herr Fusi dem behinderten Fräulein Daria einen Besuch abstatte, um ihr eine Blume zu bringen. Wozu das bitte gut sein solle?  „Sie freut sich doch immer so,“ antwortete Herr Fusi, den Tränen nahe. „Aber nüchtern betrachtet,“ versetzte der Agent, „ist sie für Sie, Herr Fusi, verlorene Zeit.“ Alles zusammengenommen habe Herr Fusi bereits mehr als die Hälfte seines Gesamtvermögens an Zeit verloren. Von seinen 42 Jahren seien ihm effektiv 0,000.000.000 Sekunden geblieben. „Das,“ dachte Herr Fusi zerschmettert, „ist also die Bilanz meines ganzen bisherigen Lebens.“ Die Angst, dass ihm nichts bleibt, die ergreift von Herrn Fusi und vielen, vielen anderen angeblich modernen und fortschrittlichen Menschen in der großen Stadt Besitz. Sie beginnen, Zeit einzusparen, wo es nur geht, alles vermeintlich Überflüssige wegzulassen. Herr Fusi bspw. verrichtet seine Arbeit fortan schnell und wird dabei zunehmend lustlos. Seine Mutter steckt er in ein gutes, aber billiges Altersheim und besucht sie nur noch einmal im Monat. Er verkauft seinen Wellensittich und besucht das gelähmte Fräulein Daria nicht mehr. Je mehr er und die anderen Erwachsenen Zeit einsparen, desto mehr leiden ihre Beziehungen. Sogar zu den eigenen Kindern, die man nun vermehrt in sogenannte Kinder-Depots steckt, wo sie zu kleinen Zeitsparern umerzogen werden sollen. So werden auch die Besuche bei Momo immer seltener. Der kleine Paolo etwa erzählt:

Paolo: „Meine Eltern haben gesagt, ihr seid bloß Faulenzer und Tagediebe. Ihr stehlt dem lieben Gott die Zeit, haben sie gesagt. Deshalb habt ihr so viel. Und weil es von eurer Sorte viel zu viel gibt, haben andere Leute immer weniger Zeit, sagen sie. Und ich soll nicht mehr herkommen, weil ich sonst genau so werde wie ihr.“

Niemand schien zu bemerken, dass er, indem er Zeit sparte, in Wirklichkeit etwas ganz anderes sparte. Keiner wollte wahrhaben, dass sein Leben immer ärmer, immer gleichförmiger und immer kälter wurde. Zwar waren die Zeit-Sparer in der Regel besser gekleidet und verdienten mehr Geld, so dass sie auch mehr Geld ausgeben konnten. Aber sie hatten missmutige, müde oder verbitterte Gesichter und unfreundliche Augen. Selbst ihre freien Stunden versuchten sie noch auszunutzen, und in aller Eile so viel Vergnügen und Entspannung hineinzupacken, wie nur möglich war.

Erzähler: „So konnten sie keine richtigen Feste mehr feiern, weder fröhliche noch ernste. Träumen galt bei ihnen fast als ein Verbrechen. Am allerwenigsten aber konnten sie die Stille ertragen. Denn in der Stille überfiel sie Angst, weil sie ahnten, was in Wirklichkeit mit ihrem Leben geschah. Darum machten sie Lärm, wann immer die Stille drohte.  (…). Niemand hatte mehr Zeit. Aber Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen. Und je mehr die Menschen daran sparten, desto weniger hatten sie.“

An welcher Stelle spare ich Zeit ein? Und warum eigentlich? Führt mich das wirklich zum „richtigen Leben“ und zu einem Mehr an Zeit? Wo bleibt die Stille in meinem Leben und wo bleibt Zeit für Gott, der in der Stille zu meinem Herzen. spricht?

Vortragslied: „Abide with me“

Gedankengang 3: „Geschenkte Zeit“. Momo und Meister Hora, der Herr der Zeit

Anfangs hatten die grauen Herren noch versucht,  Momo auf ihre Seite zu ziehen, sie mit Spielsachen wie „Bibi Girl – die perfekte Puppe“ ruhig zu stellen. Momo aber möchte sie gar nicht haben: „Ich glaub, man kann sie nicht liebhaben. Meine Freunde aber, die hab ich lieb“ sagt sie leise in aller Schlichtheit. Und als der graue Herr, der sie im alten Amphitheater aufgesucht hat, ihr eiskalt zu erklären versucht, dass es darauf nun wirklich nicht ankomme, sondern nur darauf, dass man es zu etwas bringt, dass man etwas wird und etwas hat und dass ihre Freunde eben darum nun einfach keine Zeit mehr für sie hätten, da fragt Momo nur flüsternd: „Hat dich denn niemand lieb?“

Die tiefe Wahrheit, die hinter dieser Frage liegt und die den ganzen Sinn des Zeitsparens in Frage stellt, weil wahre Liebe immer die Zeit vergisst und einen verschwenderischen Umgang mit ihr pflegt, die wird zur Gefahr für die grauen Herren und ihr System, das sie der großen Stadt aufgezwungen haben und dass wie eine ansteckende Krankheit von den Menschen Besitz ergriffen hat. Bevor sie Momo jedoch beseitigen können, tritt der geheimnisvolle Meister Hora, zu Deutsch: „Der Herr der Stunde“, rettend auf den Plan.

Er weist Momo durch seine Schildkröte Kassiopeia den Weg zum Nirgend-Haus in der Niemals-Gasse, wo er die Lebenszeit aller Menschen in seiner Obhut hat. Wenn Ihr jetzt anfangt, erste Parallelen zwischen Meister Hora und Gott, dem Herrn der Zeit zu entdecken, dann liegt Ihr sicherlich nicht falsch. Meister Secundus Minutius Hora teilt jedem Menschen die Zeit zu, die ihm bestimmt ist, aber: „Was die Menschen mit ihrer Zeit machen, darüber müssen sie selbst bestimmen. Sie müssen sie auch selbst verteidigen. Ich kann sie ihnen nur zuteilen.“In seiner Gegenwart denkt Momo viel über das Geheimnis der Zeit nach. „Sag mal, was ist denn die Zeit eigentlich?“ fragt sie Meister Hora. „Es wäre schön, wenn du das selbst beantworten könntest.“ erwidert er nur. Und Momo überlegt lange:

Momo: „Sie ist da, das ist jedenfalls sicher. Aber anfassen kann man sie nicht. Und festhalten auch nicht.  Vielleicht ist sie so etwas wie ein Duft? Aber sie ist auch etwas, das immerzu vorbeigeht.  Also muss sie auch irgendwo herkommen. Vielleicht ist sie so etwas wie der Wind? Oder nein! Jetzt weiß ich´s! Vielleicht ist sie eine Art Musik, die man bloß nicht hört, weil sie immer da ist.  Obwohl, ich glaub, ich hab sie schon manchmal gehört, ganz leise. (…) Aber es muss noch was anderes dabei sein.  Die Musik. Ist nämlich von weit her gekommen, aber geklungen hat sie ganz tief in mir drin. Vielleicht ist es mit der Zeit auch so.“

Sie schwieg verwirrt und fügte dann hilflos hinzu: „Ich meine, so wie die Wellen auf dem Wasser durch den Wind entstehen. Ach, das ist wahrscheinlich alles Unsinn, was ich rede!“ Das findet Meister Hora aber nicht. Im Gegenteil. Und er erklärt ihr, dass jeder Mensch in seiner Brust einen Ort hat, um die Zeit wahrzunehmen:

Meister Hora: „Denn so, wie ihr Augen habt, um das Licht zu sehen, und Ohren, um Klänge zu hören, so habt ihr ein Herz, um damit die Zeit wahrzunehmen. Und alle Zeit, die nicht mit dem Herzen wahrgenommen wird, ist verloren wie die. Farben des Regenbogens für einen Blinden oder das Lied eines Vogels für einen Tauben. Aber es gibt leider blinde und taube Herzen, die nichts wahrnehmen, obwohl sie schlagen.“

„Und wenn mein Herz einmal aufhört  zu schlagen,“ fragte Momo. „Dann,“ erwiderte Meister Hora, „hört auch die Zeit für dich auf, mein Kind. Man könnte auch sagen, du  selbst bist es, die durch die Zeit zurückgeht, durch alle deine Tage und Nächte, Monate und Jahre. Du wanderst durch dein Leben zurück, bis du zu  dem großen runden Silbertor kommst, durch das du einst hereinkamst. Dort gehst du wieder hinaus.“ „Und was ist auf anderen Seite?“ „Dann bist du dort, wo die Musik herkommt, die du manchmal schon ganz leise gehört hast. Aber dann gehörst du dazu, du bist selbst ein Ton darin.“ Auf Momos Frage, ob er der Tod sei, lächelte Meister Hora und schwieg eine Weile, ehe er antwortete: „Wenn die Menschen wüssten, was der Tod ist, dann hätten sie keine Angst mehr vor ihm.  Und wenn sie keine Angst mehr vor ihm hätten, dann könnte ihnen niemand ihnen mehr  die Lebenszeit stehlen.“ „Dann braucht man es  ihnen doch bloß zu sagen,“  schlug Momo vor.„Meinst du?“ fragte Meister Hora. „Ich sage es ihnen. Mit jeder Stunde, die ich ihnen zuteile. Aber ich fürchte, sie wollen es gar nicht hören.  Sie wollen lieber denen glauben, die ihnen Angst machen. Das ist auch ein Rätsel.“

Vortragslied:„Largo“ aus Xerxes von Händel

Gedankengang 4: „Zeit erleben“ – im eigenen Herzen

„Fürchtet euch nicht,“ ist einer der häufigsten Sätze in der Bibel. Auch sie versucht wie Meister Hora, die Angst zu nehmen, an die Güte und Gnade zu erinnern, an Menschenfreundlichkeit und Herzenswärme, sie will die Hoffnung hochhalten und den Glauben an das Gute. Die Angst vor dem Tod zu überwinden – fast jede Zeile im Neuen Testament zeugt davon, dass dies im Vertrauen auf den Herrn möglich wird. Aber können wir diese Botschaft hören und wahrnehmen oder sind auch unsere Herzen blind geworden und taub, im Versuch, einer Logik nachzufolgen, die dem Leben das Meiste abgewinnen will und eben dadurch alles zu verlieren droht, zuallererst sich selbst.

Ich zumindest kenne die Sorge des Herrn Fusi, das richtige Leben zu verpassen, nichts Bleibendes zu hinterlassen, verloren zu gehen – und ich glaube, andere kennen sie auch. Sonst könnte man uns nicht so einfach so viele billige Lösungen aufschwätzen, um diese Angst zu betäuben und möglichst viel zu erleben, nur um sich am Ende doch leer zu fühlen. Fast niemand, den ich kenne, hat je genug Zeit. Alle haben viel zu viel zu tun. Alle spüren, dass da etwas in Schieflage gerät, verausgaben sich, versuchen deshalb, besser für sich zu sorgen, mehr Zeit zu haben und sparen – nicht selten an Beziehungen, am Lesen, am Chor, an der Sorgfalt und Ruhe beim Arbeiten, beim Zuhören, beim Dasein, beim Spielen, letztlich am Leben. Und verlieren den Zugang zum eigenen Herzen, und die Fähigkeit, das Geschenk der Zeit dort wahrzunehmen und Zeit bewusst zu erleben, Augenblick für Augenblick.  Meister Hora aber führt Momo an diesen Ort, an dem man schweigen muss, nichts fragen und nichts sagen darf. Er trägt sie auf seinen Armen den weiten Weg in ihr Herz:

Erzähler: „Goldene Dämmerung umgab sie. Nach und nach erkannte Momo, dass sie unter einen gewaltigen, vollkommen runden Kuppel stand, die ihr so groß schien wie das ganze Himmelsgewölbe. Hoch oben in der Mitte war eine kreisrunde Öffnung durch die eine Säule von Licht senkrecht herniederfiel auf einen ebenso kreisrunden Teich, dessen schwarzes Wasser glatt und reglos lag wie ein dunkler Spiegel. Dicht über dem Wasser funkelte etwas in der Lichtsäule wie ein heller Stern. Es bewegte sich mit majestätischer Langsamkeit dahin und Momo erkannte ein ungeheures Pendel, welches über dem schwarzen  Spiegel hin- und zurückschwang. Als das Sternenpendel sich nun langsam immer mehr dem Rande des Teiches näherte, tauchte dort aus dem dunklen Wasser eine dunkle Blütenknospe auf. Je näher das Pendel kam, desto weiter öffnete sie sich, bis sie schließlich voll erblüht auf dem Wasserspiegel lag. Es war eine Blüte von solcher Herrlichkeit, wie Momo noch nie zuvor eine gesehen hatte.Das Sternenpendel hielt eine Weile über der Blüte an und Momo versank ganz und gar in den Anblick und vergaß alles um sich her. (…) Doch dann schwang das Pendel langsam, langsam wieder zurück. Und während es sich ganz allmählich entfernte, erkannte Momo zu ihrer Bestürzung, dass die herrliche Blüte anfing zu. verwelken. Ein Blatt nach dem anderen löste sich und versank in der dunklen Tiefe. Momo empfand es so schmerzlich, als ob etwas Unwiederbringliches für immer von ihr fortginge. Gleichzeitig begann auf der gegenüberliegenden Seite eine Knospe aus dem dunklen Wasser aufzusteigen. Und als das Pendel sich dieser nun langsam näherte, sah Momo, dass es eine noch viel herrlichere Blüte war, die da aufzubrechen begann. (…) Allmählich begriff Momo, dass jede neue Blume immer ganz anders war als alle vorherigen und dass ihr jeweils diejenige, die gerade blühte, die allerschönste zu sein schien. (…) Und Momo vernahm immer deutlicher ein Tosen, das aus unzähligen Klängen bestand, die sich untereinander ständig neu ordneten, sich wandelten und immerfort andere Harmonien bildeten. Es war Musik und war doch zugleich etwas ganz anderes. Und plötzlich erkannte Momo sie wieder: Es war die Musik, die sie manchmal leise und wie von fern gehört hatte, wenn sie unter dem funkelnden Sternenhimmel der Stille lauschte. (…) Es waren Sonne und Mond und die Planeten und alle Sterne, die ihre eigenen, ihre wirklichen Namen offenbarten. Und in diesen Namen lag beschlossen, was sie tun wie sie sie alle zusammenwirken, um jede einzelne dieser Stundenblumen entstehen und wieder vergehen zu lassen. Und auf einmal begriff Momo, dass alle diese Worte an sie gerichtet waren! Die ganze Welt bis hinaus zu den fernsten Sternen war ihr zugewandt wie ein einziges, unausdenkbar großes Gesicht, das sie anblickte und zu ihr redete! Und es überkam sie etwas, das größer war als Angst.“ (….) „Meister Hora,“ flüsterte Momo, „ich hab nie gewusst, dass die Zeit aller Menschen so…“. sie suchte nach dem richtigen Wort und konnte es nicht finden – „so groß ist,“ sagte sie schließlich. „Was du gesehen und gehört hast, Momo, das war nicht die Zeit aller Menschen. Es war nur deine eigene Zeit. In jedem Menschen gibt es diesen Ort, an dem du eben warst. Aber dort hinkommen kann nur, wer sich von mir tragen lässt.“ „Aber wo war ich denn?“ „In deinem eigenen Herzen,“ sagte Meister Hora und strich ihr sanft über ihr struppiges Haar.

Es braucht danach noch einige Zeit, bis Momo mit Meister Horas Hilfe die Zeit der Menschen von der Macht und Kälte der grauen Herren befreien kann. Zeit, bis sie wieder auftaut und dorthin zurückkehrt, wohin sie eigentlich gehört – in die Herzen der Menschen. Und plötzlich hatten alle Leute wieder unendlich viel Zeit. Natürlich war darüber jedermann außerordentlich froh, aber niemand wusste, dass es in Wirklichkeit nur die eigene gesparte Zeit war, die nun auf wunderbare Weise zu ihm zurückkehrte. Fortan kam es nicht mehr darauf an, möglichst viel in möglichst kurzer Zeit fertigzubringen. Jeder konnte sich so viel Zeit nehmen, wie er brauchte und haben wollte, um die Vögel zu füttern, mit den Kindern zu spielen, um die Blumen zu bewundern oder mit Liebe zur Sache seine Arbeit zu tun. Denn von nun an war ja wieder genug Zeit da.

Liebe Gemeinde! „Was bleibt?“ Ich würde sagen: Dieser Augenblick. Diese Stunde. Die herrliche Stundenblume, die nur jetzt und  hier zu sehen ist. Die Zeit, die entsteht und erblüht und wieder vergeht.

Deren Vergänglichkeit schmerzt und gleichzeitig doch aufgehoben ist, eingewoben und. geborgen in etwas Ewigem. Unser Gott ist ein ewiger Gott, einer der jenseits der Zeit steht, der uns aber in jeder einzelnen Sekunde, die er uns schenkt, nahe ist. Was bleibt, ist dieses Wunder im eigenen Herzen zu bestaunen. Was bleibt, ist die Zeit, die wir gelebt haben. Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen.

 Gemeindelied: „Dein ist die Zeit“

(Es gilt das gesprochene Wort. In der Predigt finden sich diverse Textauszüge aus dem Roman „Felix und die Quelle des Lebens“ von Eric-Emmanuel Schmitt, München 2021, Penguin Verlag)