„Alle Menschen werden Brüder“ (od. Geschwister)? – einer Vision des 1. Petrusbriefes auf der Spur

Predigt

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. (2 Kor 13,13)

 

Liebe Gemeinde!

Heute Morgen möchte ich die Predigt gerne mit einer Frage starten: Wer von Ihnen hat Geschwister? (Gerne mal die Hand heben)… Die nächste interessante Frage wäre an dieser Stelle vielleicht: Und wer von Ihnen hätte lieber keine? Aber ich frage lieber mal etwas milder: Wer von denen, die eine Schwester oder einen Bruder haben, hat mit ihr oder ihm schon einmal einen richtig heftigen Streit erlebt, so einer, wo die Fetzen fliegen, Tränen fließen und es Schläge unter die Gürtellinie hagelt?

Ich danke Ihnen – das beruhigt mich jetzt ein bisschen. Als Einzelkind kann ich über Geschwisterbeziehungen ja nur bedingt Aussagen treffen, aber als Mutter von vier Kindern mache ich durchaus so meine Beobachtungen, wie Brüder und Schwestern miteinander umgehen. „Seid doch mal ein bisschen netter zueinander!“ höre ich mich fast in Dauerschleife mahnen. Ich bitte euch: „Seid untereinander einig, mitfühlend, voll Liebe den Brüdern und Schwestern gegenüber, barmherzig und bescheiden. Zahlt Böses nicht mit Bösem heim oder eine Beleidigung mit einer Beleidigung. Stattdessen sollt ihr segnen. Denn Gott hat euch dazu berufen, seinen Segen zu empfangen.

Wer sich am Leben freuen und gute Tage sehen will, soll … sich vom Bösen abwenden und Gutes tun. Sucht den Frieden und jagt ihm nach.“

Okay, zugegeben, das war jetzt nicht mein O-Ton, sondern es waren Worte aus dem 1. Petrusbrief, einem Schreiben aus dem Neuen Testament, in dem ein Christ seine Brüder und Schwestern im Herrn ermahnt, ihr Verhalten zu überdenken. Genau genommen war es der Predigttext für diesen Sonntag. Und der Anforderungskatalog, den ich da lese, trifft, ehrlich gesagt, die Quintessenz dessen, was ich auch meinen Kindern über ein liebevolles Miteinander unter Menschengeschwistern zu sagen versuche. Mein Problem dabei ist: In der Regel habe ich das Gefühl, dass meine Worte völlig in den Wind gesprochen sind; Konflikte, Beleidigungen und Provokationen sind – all meinen Interventionen und Bemühungen zum Trotz – bei uns Daheim an der Tagesordnung. Möglicherweise ja nicht nur bei uns? Und nicht nur bei den kleinen Kindern, sondern auch bei den großen, den sogenannten Erwachsenen. Wissen Sie, ich habe schon Trauerfeiern gehalten, bei denen eine Schwester der anderen verboten hat, an der Beerdigung der eigenen Mutter teilzunehmen. Ich habe Gespräche geführt, in denen man den Kontakt zueinander abgebrochen hat, weil sich die Geschwister nicht über das Erbe einigen konnten. Und miterlebt, wie ein Bruder dem anderen die Frau ausspannte. Und wenn ich den Fokus noch mal weite, auf unsere Menschheitsfamilie, dann scheinen mir auch dort Konflikte aller Art an der Tagesordnung zu sein:

Ob nun einstige Brüdervölker wie Russland und die Ukraine miteinander ringen, eng verwandte Glaubensgeschwister wie Juden, Christen und Muslime, oder Schwarze und Weiße oder Frauen und Männer… Ich sehe: Eine Welt voller Krieg, Streit und Verletzung. Das ist die Ausgangsproblemlage. Und all diese gestörten weltpolitischen und persönlichen Beziehungen vor Augen, komme ich einfach nicht umhin zu denken: Die Lösungsvorschläge, die der 1. Petrusbrief uns unterbreitet, all die hehren Aufforderungen zu mehr Einigkeit, Barmherzigkeit und Mitgefühl, die Appelle, doch bitte eine friedliche Lösung für Probleme zu suchen und liebevoller und freundlicher miteinander umzugehen, haben wenig Resonanz gefunden. Moralpredigten waren, sind und bleiben wenig attraktiv, nicht nur wenn ich sie daheim am Frühstückstisch halte, auch wenn sie in der Bibel stehen. Ist dieses Idealbild von Brüderlichkeit bzw. Geschwisterlichkeit unter Menschen nicht also im Grunde völlig weltfremd, wenn es sich doch nicht leben und durchhalten lässt, nicht einmal in der eigenen kleinen Familie, nicht einmal mit der eigenen Schwester, dem eigenen Bruder? Der Normalfall unter uns Menschen ist anscheinend nicht der gute, liebevolle gemeinschaftliche Zusammenhalt, sondern die Gleichgültigkeit oder der Konflikt. Oder? Wir stellen so schöne ethische Kataloge auf – scheitern aber doch mehr oder minder kläglich an ihrer Umsetzung, ob es nun um die 10 Gebote, die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen oder um die Weisungen des 1. Petrusbriefes geht.

Die Bibel weiß darum und benennt es darum auch an vielen Stellen offen und gerade heraus – Jesus selbst legt immer wieder den Finger in genau diese Wunde. Trotzdem wird die Bibel nicht müde, das Gebot der Liebe hochzuhalten. Eigentlich müsste ihr nach 2000 Jahren doch allmählich der Arm lahmwerden, die Stimme versagen, die Hoffnung auf das Gute im Menschen schwinden?! Aber Gott gibt irgendwie nicht auf, uns durch ihre Worte hindurch hartnäckig auf die Liebe anzusprechen, die Güte, die Barmherzigkeit, die Freundlichkeit und die Vergebung. Auch heute tut er es wieder in den Worten des 1. Petrusbriefes. Der uns dann im übrigen selbst eine Begründung für seinen hohen ethischen Anspruch an uns liefert. Ich fahre im Predigttext fort:

 

Wer kann euch etwas Böses antun, wenn ihr euch leidenschaftlich für das Gute einsetzt? Glückselig seid ihr, auch wenn ihr für die Gerechtigkeit leiden müsst. Fürchtet euch nicht vor den Drohungen der Menschen und lasst euch nicht erschrecken. Macht vielmehr in eurem Leben deutlich, dass der Herr, Christus, heilig ist. Seid jederzeit bereit, Rechenschaft abzulegen über die Hoffnung, von der ihr erfüllt seid. Denn immer wieder wird man euch auffordern, dafür Rede und Antwort zu stehen. Antwortet freundlich und in Ehrfurcht vor Gott, denn ihr habt ein gutes Gewissen. Dann müssen sich alle schämen, die euch in Verruf gebracht haben. Denn sie reden schlecht über euch, obwohl ihr ein rechtschaffenes Leben in Verbundenheit mit Christus führt.

Auf gut Deutsch: Daran, wie wir Christinnen und Christen unser Leben leben, soll etwas von der Heiligkeit des Herrn Jesus Christus selbst deutlich und offenbar werden. Unsere Liebe, Freundlichkeit und Güte soll transparent sein für die seine. Oder, wie Jesus selbst es im Johannesevangelium ausdrückt: „Ich gebe euch jetzt ein neues Gebot: Liebt einander! So wie ich euch geliebt habe, so sollt ihr euch auch untereinander lieben. An eurer Liebe zueinander soll jeder erkennen, dass ihr meine Jünger seid.“ (Joh 13,34f.)

An eurer Liebe sollen sie euch erkennen – ach mein Gott, ich beginne zu ahnen, warum wir so oft nicht als glaubwürdig erkannt und befunden werden. Aber ich frage mich schon: Wie soll man das denn nur machen? Immer noch Liebe übrig zu haben für den anderen, den Bruder, die Schwester, in der Familie und unter den Glaubensgeschwistern? Immer noch einmal die Hand zur Versöhnung zu reichen? Immer noch mal den Neuanfang zu suchen? Wenn doch der Schmerz so groß ist?  Wenn da doch so viel Verletzung und Enttäuschung im Raum ist? So viele gescheiterte Versuche und geschundene Hoffnungen?  Alte offene Rechnungen auf dem Tisch liegen? Wie soll ich den anderen durch blinden Hass hindurch überhaupt noch sehen?  Wie Frieden stiften, wenn alles in mir „Krieg“ schreit! Wie soll ich erlittenes Leid und Unrecht nicht mit gleicher Münze heimzahlen, sondern die segnen, die mich verfluchen, beleidigen und mir Böses wollen. Bin ich Jesus?!

Nein, ganz sicher nicht. Aber in ihm liegt die Antwort. „Jesus is the answer for the world today“, das alte Lied hat schon recht. Der 1. Petrusbrief selbst rät uns: “Macht in Eurem Leben deutlich, dass der Herr Christus heilig ist”. Das klingt erst einmal recht abstrakt und unverständlich, finde ich. Nicht nach einer klaren Antwort. Weil ich jetzt aber etwas länger Zeit hatte als Sie, um darüber nachzudenken, nehme ich Sie einfach mal mit auf meinen Gedankenschritt mit und stelle dafür zwei Fragen:

1.Wie entsteht eigentlich Streit?

Nun, aus der Perspektive der vierfachen Mutter gesprochen: Streit entsteht im Kampf um als (völlig zu Recht!)  begrenzt wahrgenommene Ressourcen: Die Liebe und Aufmerksamkeit der Eltern, die nie reicht, materielle Güter und Gegenstände (wie das letzte Eis im Kühlschrank), die einem versagt bleiben und uns das Gefühl geben, zu kurz zu kommen, und – gerne mit beidem gepaart – das Empfinden, völlig ungerecht behandelt worden zu sein. In einer Familie tobt dieser Kampf, glaube ich, deshalb besonders heftig, weil die Geschwister so unmittelbar von ihren Eltern und deren begrenzten Ressourcen abhängig sind. Ohne die Liebe, Zeit, Aufmerksamkeit, Unterstützung, Zuwendung, Gerechtigkeit unserer Eltern geht es schlichtweg nicht – sie sind von existentieller Bedeutung für die Kinder. Aber geht es nicht auch sonst in unseren Konflikten innerhalb der Menschheitsfamilie ganz oft um knappe Ressourcen?

  1. Wie kann Streit gelöst werden?

Wenn ich bei meiner These von eben bleibe, dass Streit sich in der Regel an als zu knapp wahrgenommenen Ressourcen und der Frage nach ihrer gerechten Verteilung entzündet – dann befürchte ich: Wir Menschen werden den aus eigener Kraft überhaupt nicht dauerhaft gelöst bekommen (=> Kommunismus). Denn wir sind ja gerade durch unsere Endlichkeit definiert. Unsere Zeit, Zuwendung, Liebe ist per se begrenzt. Punkt. Unsere energetischen, materiellen Ressourcen sind begrenzt. Unsere Barmherzigkeit, Geduld, Güte, unser Streben um Gerechtigkeit – sind und bleiben auch begrenzt. Meine – Deine aber auch! Punkt. Und jetzt können wir uns wie eine Horde Löwen auf das stürzen, was  es auf dieser Welt zu verteilen gibt. Oder versuchen, uns an die Weisungen des 1. Petrusbriefes zu halten, bis uns zum nächsten Mal der Kragen platzt, weil diese blöde Kuh wieder einmal… Oder: Wir nehmen uns mal als Christinnen und Christen in. unserer Gottesbeziehung ernst. Denn wenn wir das tun, weicht der Druck aus unseren menschlichen Beziehungen und den Kampf um unsere Ressourcen. Warum? Weil Gottes durch seine Unendlichkeit definiert ist, und damit seine Ressourcen unbegrenzt sind. Er muss sich nicht entscheiden, welchem seiner Kinder er sich gerade zuwendet und Zeit schenkt. Seine Liebe hört niemals auf. Er ist die Gerechtigkeit in Person. Bei Gott kommt kein Mensch jemals zu kurz. Und damit ist doch eigentlich meiner menschlichen Urangst, im Verteilkampf zu kurz zu kommen, der Stachel genommen?

Wenn ich mich von Gott vollkommen geliebt und gewollt weiß, wenn ich daran glauben kann, dass er nur mein Bestes will und mir alles von ihm geschenkt ist – dann kann ich mir doch eigentlich Großzügigkeit leisten im Umgang mit anderen. Weil er mich mit seiner Liebe füllt, kann sie überfließen und reicht auch noch für andere. Weil er so barmherzig und gnädig und freundlich zu mir ist, kann ich anderen davon abgeben. Wenn irgendjemand uns an unserer Liebe zueinander erkennen sollte, dann erkennt er nicht uns als besonders gute Menschen, die moralisch irgendwie integerer sind als der Rest. Dann erkennt er uns als liebe-voll in dem Sinne, dass Gott sich uns voller Liebe zugewendet hat und wir so viel bekommen haben, dass wir noch was erübrigen konnten für die Brüder und Schwestern. Immer wieder und wieder. 77mal – sagt Jesus, glaube ich, auf die Frage, wie oft man einem Menschen vergeben soll (vgl. Mt 18). Also ziemlich oft – und ich meine, Jesus hat auch ganz vergessen, das an Bedingungen zu knüpfen. „Macht in eurem Leben deutlich, dass der Herr Christus heilig ist“! „Legt Rechenschaft ab von der Hoffnung, von der ihr erfüllt seid!“ Führt Euer Leben in Verbundenheit mit Christus – diese Aufforderungen des 1. Petrusbriefes sind für mich die Basis für alles andere. Ohne diese Verbindung wird uns die Kraft und der Wille zum Guten unweigerlich ausgehen – mit ihr ist Gottes Kraft in uns Schwachen mächtig. Wären wir nicht selbst getragen von Gott, könnten wir die Lasten der anderen nicht tragen.

Aber als Gesegnete und überreich beschenkte Kinder Gottes kann uns der Schmerz und die Wut, die ein anderer Mensch vielleicht in uns verursacht hat, nicht dauerhaft gefangen nehmen, ist der Verletzung die Macht genommen,  uns ohnmächtig zu machen,  kann uns die Angst nicht mehr auf Irrwege führen. Als Geliebte Gottes, die auf seine Gerechtigkeit vertrauen dürfen, brauchen wir uns nicht mehr zum Richter über unsere Mitmenschen zu erheben, die Wiedergutmachung fordern. Martin Luther hat es einmal so ausgedrückt:

Du bist aller Dinge frei bei Gott durch den Glauben. Aber bei den Menschen bist du jedermanns Diener durch die Liebe.“ 

Und der englische Schriftsteller C.S. Lewis sagt:

„Die göttliche schenkende Liebe befähigt einen Menschen, die zu lieben, die natürlicherweise nicht liebenswert sind.“

Für Dietrich Bonhoeffer heißt das:

„Unser Verhältnis zu Gott ist ein neues Leben im Dasein-für-andere. Nicht die unendlichen, unerreichbaren Aufgaben,  sondern der jeweils erreichbare Nächste ist Gott in Menschengestalt.“

Und Friedrich von Bodelschwing, der Gründer der Bodelschwingschen Anstalten in Bethel, findet:

„Die erste Frage soll nicht sein: Was kann ich von meinem Nächsten erwarten? Sondern: Was kann der Nächste von mir erwarten?“

Klingt, als hätten die alle ihren 1. Petrusbrief ganz gut gelesen und beherzigt und in Nachfolge Jesu den Weg der Liebe beschritten.

Aber ob das meine kleine Crew am Frühstückstisch auch überzeugt, wenn es ums letzte Schokocroissant geht? Vielleicht ist uns dann Mutter Teresa eine Hilfe und ihr weises Wort:

„Es ist leicht, weit entfernte Menschen zu lieben. Es ist aber nicht immer leicht, diejenigen zu lieben, die gleich neben uns wohnen.“

Trotzdem: Wenn ich an die Lesung vorhin aus der Josefsgeschichte denke –  an den Trost und die Freundlichkeit,  die Josef seinen Geschwistern schenkt, weil sein Leben am Ende nicht vor allem von der Beziehung zu ihnen geprägt worden ist sondern von der Beziehung zu Gott und der Erfahrung seines überfließenden Segens – dann habe ich doch Hoffnung auf Frieden auf Erden.

Und der Friede Gottes…