Der gekreuzigte Christus von Antonello da Messina

Der folgende Text stammt von der Bildbetrachtung von Vikar C. Feidner an der Musik zur Todesstunde am Karfreitag den 29. März 2024 in der Stadtkirche Michelstadt. Es ging um Paul Gerhards bekanntes Lied „O Haupt voll Blut und Wunden“. Der Impuls zum Kunstwerk wurde gerahmt von Musikstücken von Johann Sebastian Bach: „Komm süßes Kreuz“ und „Am Abend, da es kühle war“:

Wie mag das Gesicht, das Haupt von Jesus ausgesehen haben? Eine Frage, die sich hauptsächlich die Maler stellen. Marc Chagall hat danach in der Form eines Gedichtes gefragt. Darin heißt es:

„Ich weiß nicht, wie ich dich malen soll.
Gilt es, die Erde zu malen,
den Himmel, mein Herz?
Die Städte im Feuer? Die fliehenden Menschen?
Meine Augen in Tränen?“

Liest man, was in den Evangelien von Jesus erzählt wird, so ahnt man, dass eine gewisse Hoheit von seinem Gesicht ausging. Viele Menschen fassten sofort Vertrauen zu ihm. Im Johannesevangelium wird uns berichtet, dass die Soldaten, die ihn verhaften sollten und mit Spießen, Stangen und Stricken kamen, um einen Verbrecher zu fangen, über seinen Anblick und Angesicht so erstaunt waren, dass sie Boden fielen, fast anbetend schon. So schön und so edel mag das Gesicht Jesu gewesen sein.

 

Christ Crucified, Antonello da Messina, 1475

 

In unserem Gemälde ist das nicht so. Antonello da Messina zeigt uns mit seinem „gekreuzigten Christus“ einen blassen und erschöpften Christus. Damit lehnt er die Darstellung ab, die so viele andere berühmte Maler gewählt haben, nämlich dem Körper Christi eine Schönheit zu verleihen, die die Augen erfreut.  Bei uns sind die angespannten Arme ausgemergelt, der Kopf hängt tief und Rumpf und Beine verjüngen sich zu den genagelten Füßen hin, ohne ansprechende oder interessante Rundungen.

Auch in unserem Lied ‚O Haupt voll Blut und Wunden‘ singen wir: Du edles Angesichte […] wie bist du so bespeit, wie bist du so erbleichet! […] Die Farbe deiner Wangen, der roten Lippen Pracht ist hin und ganz vergangen.“

Im Buch Philipper heißt es: „Nehmt euch Jesus Christus zum Vorbild. Obwohl er in jeder Hinsicht Gott gleich war, hielt er nicht selbstsüchtig daran fest, wie Gott gleich zu sein. Nein, er verzichtete auf alles, er nahm die niedrige Stellung eines Dieners an und wurde als Mensch geboren und war in allem ein Mensch wie wir. Er erniedrigte sich selbst noch tiefer und war Gott gehorsam bis zum Tod, ja bis zum schändlichen Tod am Kreuz“ (Phil 2, 5-8)

Wie gehen wir mit dem Tod um? Betrachten wir mal die beiden, die unter dem Kreuz sitzen. Hier wiedersteht unser Künstler Antonello auch der Tradition, Maria und Johannes auf beiden Seiten des Kreuzes in einer Haltung darzustellen, die sie in frommer und staunender Pose zeigt. Hier sind zwei Menschen, für die alles zu viel ist oder sich alles viel zu lange hinzieht.

Johannes zu der Rechten hat das Aussehen und die Haltung von jemandem, der seinen sterbenden Meister lange Zeit auf der Suche nach einem Zeichen von Gnade oder Bedeutung anstarrt. Sein erhobener Kopf und seine erhobene Hand stellen das ewige „Warum?“ dar, das immer mit Verlust und Kummer verbunden ist.

Maria, auf der Linken Seite, zeigt schon gar nicht mehr diese übriggebliebene Erwartung. Ihre Beine sind unter ihr weggesteckt, ihre Hände sind auf ihren Knien nach unten gedreht. Auch ihr bedeckter Kopf hängt nach unten, sie dreht sich zur Seite und ihre Augen schauen ins Leere. Vielleicht schaukelt sie sich in ihrem Kummer hin und her, oder sie ist regungslos. Ihr Körper und ihr Geist sind erfüllt von nichts anderem als einer Trauer, die kein Ende des Ganzen sieht.

Und doch zeigen die beiden eine gewisse Treue. Als würden sie die sechste Strophe unseres Liedes sprechen: „Ich will hier bei dir stehen, […] von dir will ich nicht gehen. […] Wenn dein Haupt wird erblassen im letzten Todesstoß, alsdann will ich dich fassen, in meinem Arm und Schoß.“

 

Hinter den beiden liegen ein befestigter Hafen, eine Hügelkette, das Meer und noch mehr Hügel dahinter. Wir können kilometerweit sehen. Die Menschen am Hafen machen neugierig. Einige sind in kleinen Booten unterwegs, andere versammeln sich auf die übliche italienische Art vor dem Tor. Eine berittene Gruppe macht sich auf den Weg zurück in die Stadt. Sie kümmern sich überhaupt nicht um die Tragödie im Vordergrund. Es scheint keinen Sinnzusammenhang zu geben zwischen ihnen im Hintergrund und dem Leid das sich im Vordergrund ereignet.

In einem Gedicht schreibt der englische Schriftsteller W.H. Auden:

„Wenn es ums Leiden ging, da haben sie sich nie geirrt, die alten Meister: wie gut sie verstanden sie diese menschliche Erfahrung; wie es geschieht, das Leid, während woanders jemand anderes isst oder ein Fenster öffnet oder einfach nur träge entlanggeht.“

Wer um einen geliebten Menschen trauert kennt vielleicht diese Erfahrung: Man selbst mag in tiefer Trauer sein; aber das Leben um einen herum geht weit, als wäre nichts gewesen. Dies hat auch Antonello in seinem Gemälde sichtbar gemacht: Er zeigt die Entfremdung des Todes, den kulminierenden Opfermoment des Karfreitags, wenn das Opfer verachtet und getrennt stirbt und doch geht das Leben drumherum weiter, als hätte sich nichts Bedeutungsvolles ereignet. Alles wäre doch sowieso alles Hoffnungslos.

Und doch hat Antonello Christus an ein viel höheres Kreuz gehängt, als es notwendig gewesen wäre. Indem sie ihn in den Himmel erhoben, verliehen die Maler den Qualen Christi eine gewisse transzendente Monumentalität, die darauf hindeutete, dass sein himmlischer Vater sein Opfer akzeptierte. „Es ist vollbracht“ sind Jesu letzte Worte im Johannesevangelium. Damit zitiert Jesus wiederum den 22. Psalm, der zwar beginnt mit „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“, aber endet mit diesen Worten: „Es ist vollbracht!“ Das mag auch darin angedeutet sein, dass gut die Hälfte des Bildes den Himmel zeigen: Keinen Himmel voller Regen- oder Gewitterwolken, sondern einen, an dem die Sonne scheint, einem guten Abend, an dem Frieden geschlossen wurde zwischen Gott und den Menschen.

Ein letzter Gedanke zum Gemälde: Vielleicht ist es auch keine Abenddämmerung, die Antonello hier darstellt. Sondern vielleicht schon ein Morgengrauen. Ein neuer Morgen der beginnt. Daraufhin deuten auch die drei Frauen am Fuße des Kreuzes hin. Wer weiß, vielleicht sind diese schon auf dem Weg zum offenen Grab.

[Quellen: Predigt von Ernst Arfken „Predigtreihe ‚Passion im Lied“ von 2001 und John Drury „Painting the World – Christian Pictures and their Meaning“ von John Drury, 1999, S. 102-105.]