„Ein Blick in die Sternennacht“ – Kunstgottesdienst inspiriert von Vincent van Gogh

Begrüßung 

Guten Abend und herzlich willkommen zum Gottesdienst zur Abendstunde im Monat September. Mit ihm eröffnen wir eine vierteilige Predigtreihe auf den Spuren bekannter Maler und ihrer Werke.  Vor allem aber begeben wir uns auf die Suche nach den Spuren, die Gott in ihren Gemälden hinterlassen haben mag. So blicken wir mit Albrecht Dürer auf die Reformation, mit Friedensreich Hundertwasser auf den „Großen Weg“, den wir alle im Leben gehen und mit Rembrandt van Rijn schließlich werfen wir einen Blick in die Krippe.

Heute Abend steht unser Kunstgottesdienst unter dem Motto „Ein Blick in die Sternennacht“ – eine Anspielung auf eines der berühmtesten Gemälde des niederländischen Malers Vincent van Gogh. „Ich persönlich weiß nichts mit Sicherheit, aber der Anblick der Sterne lässt mich träumen,“ hat van Gogh einmal gesagt. Folgen wir seiner Sehnsucht und begeben wir uns mit ihm auf die Suche nach ihrem Ursprung und Ziel. Machen wir uns auf, um dem Ewigem nachzuspüren und es mit ihm zu schauen. Feiern wir im Namen dessen, der über den Sternen thront und in unserem Herzen wohnt:  Im Namen unseres Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Hinführung

Kennen Sie van Gogh? Viele Menschen kennen van Gogh. Seine Sonnenblumen und provenzalischen Landschaften. Die bunten Farben und dicken Pinselstriche. Vielleicht wissen Sie auch, dass er zu Lebzeiten nur ein einziges Bild verkauft hat und dass er sich ein Ohr abgeschnitten hat. Vielleicht haben Sie sogar schon einmal eine Ausstellung besucht, in der seine Gemälde gezeigt wurden – in Frankfurt etwa, bei „Van Gogh alive“ im Frühjahr, oder Sie waren im Van Gogh Museum in Amsterdam, oder Sie sind, wie ich, durch das Metropolitan Museum in New York gezogen, auf der Suche nach seiner berühmten „Sternennacht“.

Ich dachte, ich kenne van Gogh, von Postkarten und aus Schulbüchern. Ich glaube nicht, dass ich ihn besonders mochte, am Anfang. Bis ich das erste Mal wirklich Auge in Auge mit ihm stand, bzw. bis er mir auf der Leinwand eines seiner Gemälde einen Blick in seine Seele gewährte. Es war ein tiefes, plötzliches Erkennen, ein Verstehen, ein Staunen, eigentlich eine Offenbarung.

(BILD „Olivenhain“ Juli 1889)

Datei:Van Gogh - Olivenhain1.jpeg

Ich sah einen Olivenhain, auf den ersten Blick nur eines unter vielen Landschaftsbildern, das die leicht sterilen Wände des Kröller-Müller Museums nahe der niederländischen Stadt Otterlo ziert. Ich sah das Bild und ich sah darin eingefangen die Leidenschaft und den Schmerz, van Goghs Passion, das Ringen in jedem viel zu rasch, nahezu fieberhaft hingeworfenen Pinselstrich, pure Geniestreiche, jeder einzelne von ihnen, ohne Frage! Ich sah das Herz eines Menschen, das er schonungslos offenlegte in all seiner Verzweiflung, und all seiner Schönheit. Vincent van Gogh offenbarte mir nicht nur die Sehnsucht seiner Seele, sondern berührte die meine. Nein, ich kenne van Gogh nicht. Aber für mein Empfinden, habe ich an diesem Tag doch etwas von ihm erkannt. Und ich begann zu ahnen, etwas von seinem Genie zu begreifen, dass ihn zu einem der berühmtesten Maler aller Zeiten werden ließ…. und nein, es waren nicht ein paar hastig im Verblühen begriffene Sonnenblumen, die Ende der 80er für über 40 Millionen Dollar veräußert wurden.

Ich bin gewiss keine Kunstkritikerin aber für meinen Geschmack begreift man ein Gemälde von van Gogh erst dann, wenn man selbst davorsteht und seine Tiefenstruktur erfasst – denn es ist dreidimensional, fast wie das Werk eines Bildhauers. Eine Tatsache, die sich auf keiner Postkarte oder irgendeiner Projektion jemals offenbaren wird.

Die Ölfarben sind so dick aufgetragen, dass das Gemälde Plastizität erhält, als wäre es aus Lehm geformt. Ein Stück Schöpfung auf den Spuren des Schöpfers, der einst den ersten Menschen aus dem Lehm des Erdbodens heraus formte und in ihm wie in jedem seiner Werke zuvor und seither ein Stück seines eigenen unsterblichen Wesens einmodelliert. Ein Blick in Gottes Ewigkeit, gesehen durch die Vergänglichkeit. Gesehen in jedem einzelnen seiner Geschöpfe, gesehen in den Menschen, in den Blättern der Bäume und den Gräsern des Gartens, gesehen in der Natur, über die der Wind dahinzieht. Gesehen in den Sonnenblumen und den Olivenbäumen. Geschöpfe und Gedanken Gottes wie wir selbst, die von Erde genommen sind und wieder zu Erde werden und zwischenzeitlich in ihrem Sein von der Schönheit Gottes zeugen. Wie heißt es doch im 1. Petrusbrief (1,24f):

„Denn »alles Fleisch ist wie Gras und alle seine Herrlichkeit wie des Grases Blume. Das Gras ist verdorrt und die Blume abgefallen; aber des Herrn Wort bleibt in Ewigkeit« Das ist das Wort, welches euch verkündigt ist.“

Ich persönlich meine, etwas von dieser biblischen Botschaft auch der Impression des südfranzösischen Olivenhains aus dem Jahr 1889 abzuspüren, die Vincent van Gogh mir an jenem Tag zukommen ließ. Allein das Spiel mit dem Kontrast zwischen dem Grün der in der Erde verwurzelten Olivenbäume und ihrer Blätter und dem Blau des Himmels, scheinbar verbindet sie nichts.  Aber wenn man der Pinselführung folgt erkennt man: Sie sind aufs Engste verbunden, fließen quasi ineinander über, der Himmel und die Erde, so wie sie es in der Natur Jesu Christi tun, in der sich Gott uns Menschen offenbarte. Ich glaube auch, offen gestanden, nicht, dass es ein Zufall ist, dass er nur wenige Monate vor seinem eigenen frühen Tod im Juli 1890 (van Gogh wurde gerade einmal 37 Jahre alt), ausgerechnet Olivenbäume malte – diese, wie der Künstler selbst schreibt, höchst „biblischen Bäume“, Erinnerungen an den Garten Gethsemane allesamt, an Jesu letzte Stunden. Aber anders als etwa seine Malerkollegen Paul Gauguin und Emile Bernard wollte van Gogh eigentlich nie explizit erhabene biblische Szenen darstellen, die großen Glaubensheroen der Vergangenheit, sondern vielmehr selbst der „reinen Mentalität der ersten Christen“ nachspüren und für sich und seinen Glauben betrachten. Ihm ging es wesentlich darum, das tiefe, ehrfürchtige Gefühl zum Ausdruck zu bringen, das einen Menschen angesichts der eigenen Vergänglichkeit vor dem Spiegel der Ewigkeit Gottes überkommt.

Musikalisches Zwischenspiel

Gedankengang 1 (Biographisches)

Kennen Sie van Gogh? Diesen Mann, der wie Jakob im ersten Buch Mose (47,28) von sich selbst sagte: „I am a stranger on the earth“ – „Ich bin ein Fremder auf dieser Erde“? Wissen Sie, dass er in einem Pfarrhaus geboren und aufgewachsen ist, als Sohn eines reformierten Pastors im niederländischen Brabant? Dass er in seiner Jugend mit Freunden Abend für Abend selbst in der Bibel las, weil sie das Buch der Bücher von Anfang bis Ende durcharbeiten wollten auf der Suche nach Antworten? Können Sie sich vorstellen, dass er an seiner äußerst erfolgreich begonnenen Karriere als Kunsthändler in London und Paris zu zweifeln begann, weil er spürte, dass das nicht Gottes Bestimmung für ihn entsprach? Die Frage, wie „ein Mensch es verantworten kann, dass er das eine Leben, das er hat, damit verbringt, dummen Leuten schlechte Bilder zu verkaufen“ trieb ihn zunehmend um. Vincent dachte viel darüber nach und schrieb damals an seinen Bruder Theo: „Ich glaube, das Leben ist noch ziemlich lang, und die Zeit kommt von selbst, da ein anderer Dich gürten wird und führen, wo du nicht hinwillst.“ Die Zeit kam für Vincent ziemlich bald – denn seine Vorgesetzten kündigten ihm die angesehene Stellung im Kunsthandel mit der Begründung, dass er sich zu sehr dem Gebet widme und darüber den Verkauf von Bildern vergesse. Immer deutlicher spürte van Gogh eine Berufung in sich wach werden. Im März 1877 schrieb der 23jährige: „Es ist mein Gebet und inniges Verlangen, dass der Geist meines Vaters und Großvaters (beides Pfarrer) auch auf mir ruhen möge, und dass es mir vergönnt sei, ein Christ und ein Christen-Arbeiter zu sein“. Und in einem der über 900 erhalten gebliebenen Briefe an seinen geliebten kleinen Bruder Theo, mit dem ihm zeitlebens eine besonders enge Beziehung verbunden hat, setzt Vincent nach: „Sollte ich etwas (Neues) finden, so wäre es wahrscheinlich eine Stellung so zwischen Prediger und Missionar unter Arbeitern in den Vorstädten in London.“

Der Apostel Paulus und seine Missionstätigkeit wurden immer mehr zur erklärten Identifikationsfigur für van Gogh. Aber noch war er ein Jahr zu jung, um wie erhofft als „London missionary“ zu arbeiten, und so lehrte er übergangsweise an einem Internat biblische Geschichte. Am 4. November 1876 durfte Vincent schließlich seine erste eigene Predigt halten. Van Gogh erinnert sich an diesen Moment mit den Worten: „Ich hatte ein Gefühl wie jemand, der aus einem dunklen, unterirdischen Gewölbe wieder ins freundliche Tageslicht kommt, als ich auf der Kanzel stand“. Seiner Sehnsucht nach Gott folgend, begann van Gogh einige Monate später, im Frühjahr 1877 in Amsterdam ein Theologiestudium, um wie sein Vater auch Pfarrer zu werden. Nach nur einem Jahr jedoch brach er das Vorhaben enttäuscht und desillusioniert wieder ab. Die wissenschaftliche Theologie seiner Zeit empfand Vincent van Gogh nämlich als einen „unbeschreiblichen Schwindel, wo lauter Pharisäertum gezüchtet wird“. Für sein Empfinden ging es im Christentum doch weniger um gelehrte Theorien und Spekulationen als vielmehr um die praktisch gelebte Nachfolge Christi (im Sinne des Thomas von Kempen). Van Gogh ging es um die Verkündigung in Tat und Wort,  um den Dienst am Nächsten, um „agape“, die ganz praktisch gelebte christliche Nächstenliebe. Ich weiß nicht, ob Sie van Gogh gut genug kennen, dass Sie wissen, dass der junge,  gottesfürchtige Mann vom Elend der Arbeiter in den entstehenden Industriestädten so sehr bewegt war, dass er sich entschied, ihnen sein Leben zu widmen. Wenn schon nicht als studierter Pfarrer, so wollte er nun als vom Missionswerk ausgesandter Laienprediger in einem belgischen Kohlerevier die frohe Botschaft verkündigen. Um uns mal einen kurzen Eindruck von den Verhältnissen dort zu verschaffen: Fast die gesamte Bevölkerung der südbelgischen Borinage, einschließlich der Kinder ab 9 Jahren, arbeitete unter Tage. Der Lohn für 13 Stunden Plackerei reicht nur für Brot und sauren Käse.  Älter als 40 wurde hier kaum jemand: Entweder man kam bei einem der häufigen Grubenunglücke ums Leben oder man holte sich eine Lungenkrankheit. Zum Entsetzen seiner Familie fing van Gogh an, das Leben der armen Bergarbeiter radikal zu teilen – fast bis zur völligen Selbstverleugnung. „Man soll das Feuer in der Seele nie ausgehen lassen, sondern es schüren. Wer die Armut für sich erwählt und sie liebt, besitzt einen großen Schatz und wird die Stimme seines Gewissens immer deutlich hören. Wer diese Stimme, die Gottes beste Gabe ist, hört und ihr folgt, findet in ihr einen Freund“, lautete seine Überzeugung. Wie ein moderner Sankt Martin verschenkte Vincent seine Kleidung an die Armen – und bald schon auch alles andere, was er besaß, inklusive seines Essens. Er zog in eine alte und heruntergekommene Bretterhütte und ernährte sich wie ein Asket nur noch von Wasser und Brot. Der 14jährige Sohn der Bäckersleute, bei denen van Gogh zuvor gewohnt hatte, erinnert sich an sein Wirken als Evangelist später so: „Im selben Jahr, 1879, war ein schlagendes Wetter in Schacht Nr. 1 der Charbonnage Belge, wo mehrere Arbeiter schwere Brandwunden davontrugen. Unser Freund Vincent hatte Tag und Nacht keine Ruhe, er zerschnitt seine letzte Wäsche, um daraus Binden mit Wachs und Olivenöl zu machen und damit zu den Verbrannten zu eilen. Die Menschenfreundlichkeit unseres Freundes wurde von Tag zu Tag größer. Die Vorwürfe des Konsistoriums nahmen von Tag zu Tag zu, aber er blieb in tiefster Demut.“

Ja, den Kirchenoberen war van Goghs Verhalten tatsächlich schon sehr bald ein Dorn im Auge. Ungepflegt und abgerissen wie er war, empfand man sein Auftreten im Namen der Heiligen Kirche zunehmend als unangenehm und peinlich. Als Vincent van Gogh schließlich auf die Idee kam, bei der Kirchenleitung konkrete Hilfe für die Bergleute zu erbitten, die mit einem Streik bessere Sicherheitsmaßnahmen erzwingen wollen, war das Maß für die Missionsleitung offenbar voll. Statt der erwarteten Hilfe schickten sie zwei gut gekleidete Herren aus dem Vorstand. Sie überhäuften Vincent van Gogh mit Vorwürfen – in völliger Verkennung seines Willens zum Helfen und seiner darin zum Ausdruck kommenden Nächstenliebe als verschrobene „Verrückheit“ (im übrigen das erste Mal in eine langen Reihe, dass Vincent van Gogh sich mit diesem über ihn verhängten Label auseinandersetzen musste).  Ein Feind des Evangeliums sei er, urteilte man im Konsistorium, denn sein Verhalten schade dem Ansehen der Kirche und sein Benehmen sei eines Predigers schlichtweg unwürdig. Van Gogh wurde seines Dienstes, den er aus Motiven versehen hatte, die denen eines Franz von Assisi und eines Albert Schweitzer durchaus vergleichbar waren, enthoben und fristlos entlassen. Damit war Vincent nun plötzlich selbst völlig mittellos und lebte im Armenghetto. In der kunsthistorischen Literatur über ihn heißt es oft, dies sei der Punkt gewesen, an dem er seinen Glauben und „religiösen Übereifer“ hinter sich gelassen und mit Gott gebrochen habe, um sich neuen Dingen zuzuwenden.

Tatsächlich brach van Gogh mit der Kirche und den institutionalisierten Formen des Glaubens, als man ihn aus seiner missionarischen Tätigkeit entfernte – nannte sich aber einen „Gläubigen in seinem Unglauben“. Ich persönlich habe nicht den Eindruck, als habe er je mit Gott gebrochen – im Gegenteil: Vincent entdeckte sogar eine neue Form der Verkündigung für sich – die Kunst. „Wenn ich nicht predigen kann, werde ich den Menschen das Reich Gottes auf andere Art verkündigen,“ so lautete sein Entschluss. Und so griff er mitten im Elend des Bergarbeiterghettos, in der Situation persönlichen Scheiterns, voller Selbstzweifel und Verunsicherung zum ersten Mal zum Pinsel – mit 27 Jahren, ohne jede künstlerische Ausbildung, im Versuch, mit seinen Bildern etwas von dem zum Ausdruck zu bringen, was ihm mit seinen Predigten offenbar nicht überzeugend genug gelungen war: „Ich glaube fast, dass diese Bilder euch sagen werden, was ich mit Worten nicht sagen kann,“schrieb er später einmal in einem Brief. Einige Jahre lang noch bleiben die Armen, die sein Herz so sehr anrührten, van Goghs wichtigstes Motiv. In düsteren, graubraunen Impressionen von Elend, Armut und Hunger erzählte er von ihren marginalisierten Leben. Er porträtierte die, die niemand sehen wollte – führte vor Augen, wo andere lieber wegsehen wollten. Hatte keine Scheu vor den „einfachen Leuten“ sondern bewahrte sich immer ein Herz für sie. „Ihr sollt Gott lieben und Euren Nächsten wie Euch selbst“ – Jesu höchstes Gebot, eingefangen in den Bildern der Menschen und Dinge, denen van Gogh ihm nachfolgend begegnet ist – lassen wir sie einen Moment auf uns wirken.

Musikalisches Zwischenspiel (dazu folgende Bilder:)

Vincent van Goghs Erstlingwerk: Stillleben mit Kohl und Holzschuhen. 1881Datei:Stilleven met kool en klompen - s0137V1962 - Van Gogh Museum.jpg

Skizze von Van Goghs zeitweiliger Geliebter: Die Prostituierte Sien Hornik. 1882

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Vincent van Gogh. Webstuhl mit Weber. 1884.Weber am Webstuhl von Vincent van Gogh

Vincent van Gogh: Die Kartoffelesser. 1885.

Die Kartoffelesser (Vincent van Gogh)

Gedankengang 2

Vincent van Gogh war ein Prediger – nicht mehr so sehr mit Worten, vielleicht noch in den Briefen an Familienmitglieder und Freunde, aber sehr wohl in seinen Bildern. „Mir erscheint es als eine Pflicht des Malers zu versuchen, eine Idee in sein Werk zu legen,“ erläuterte er, „auf diesem Blatt wollte ich ausdrücken, was mir als einer der stärksten Beweise für die Existenz von quelque chose lá-haut (etwas dort oben…) nämlich für die Existenz Gottes und die Ewigkeit erscheint.“ An anderer Stelle schreibt der Niederländer: „Man kann nichts Besseres tun, als in allem, in jeder Lage, überall und jederzeit den Gedanken an Gott festzuhalten und mehr Erkenntnis von ihm zu erlangen suchen, und die kann man aus der Bibel gewinnen wie auch aus allen anderen Dingen.“ Auch wenn Van Gogh nicht explizit bestimmte biblische Szenen nachmalte, setzt er sich in Landschaftsdarstellungen, Stilleben und Porträts durchaus mit theologischen und biblischen Stoffen in seiner Malerei aueinander. In Vincents Form eine höchst adäquate Form der Verkündigung. Seinem Freund Èmile Bernard etwa erklärte er in einem Brief aus dem Januar 1888, Christus sei schließlich selbst ein „Künstler“ gewesen, der „keine Bücher geschrieben“, sondern vielmehr in Gleichnissen gesprochen habe, die in ihrer Ausgestaltung „eine Verbindung zur Malerei“ aufwiesen – Wortgemälde gewissermaßen.

Vor allem das „Gleichnis vom Sämann“ aus dem Lukasevangelium hatte es Vincent van Gogh angetan – er hat es mehr als 5mal in unterschiedlichen Variationen gezeichnet. „Es ging ein Sämann aus zu säen seinen Samen,“ lesen wir im 8. Kapitel des Lukasevangeliums: „Und indem er säte, fiel einiges an den Weg und wurde zertreten, und die Vögel unter dem Himmel fraßen´s auf. Und anderes fiel auf den Fels; und als es aufging, verdorrte es, weil es keine Feuchtigkeit hatte. Und anderes fiel mitten unter die Dornen; und die Dornen gingen mit auf und erstickten´s. Und anderes fiel auf gutes Land; und es ging auf und trug hundertfach Frucht.“

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Van Gogh fokussierte sich vor allem auf den letzten Vers– den Sämann, dessen ausgestreuter Samen auf gutes Land fällt. Für gelingendes Wachstum (dargestellt durch das reife Korn im Hintergrund) braucht es laut Vincents Interpretation vor allem 2 Komponenten: 1) Licht und 2) gut gepflügte Erde. Das Licht wird überhaupt in diesen späteren Jahren seines künstlerischen Schaffens (das insgesamt ja gerade mal 10 Jahre umfasste!) van Goghs wohl größtes Thema. Es dominiert auf die eine oder andere Weise fast jedes seiner Gemälde. Mal wie hier, als helle, alles überstrahlende Sonne dargestellt, als Fix- und Ankerpunkt der ganzen Szene, mal auch einfach in ihrer Wirkung. Das graubraun der frühen Werke van Goghs ist aus seinen Werken nun plötzlich wie weggewischt – ja, bei allem Sonnenschein fällt es schwer, auf einem seiner Gemälde auch nur mal einen Schatten auszumachen. Er ist wie verliebt und berauscht vom Licht – und das meiner Meinung nach nicht nur, weil er in diesen späteren Jahren seines Schaffens überwiegend unter der südfranzösischen Sonne arbeitete. Vielleicht mag man mir an dieser Stelle vorwerfen, ich spräche als Theologin, aber für mein Empfinden muss man fast blind und taub sein, um nicht zu verstehen, wessen Wesen van Gogh in der Darstellung seiner lichtdurchfluteten Bilder offenbart. Für Theo, den Bruder, legt van Gogh diesen Bezug auch durchaus selbst nahe, wenn er schreibt: „Wer nicht an die Sonne glaubt, ist gottlos“. Und so nutzt er sie, da sind sich die meisten Kunsthistoriker nun wieder einig, auf einem anderen Gemälde kurzerhand als himmlischen Heiligenschein um den Kopf des Sämanns – vielleicht Christus selbst, der Gottes Wort unter die Menschen ausstreut.

Vincent van Gogh. Der Sämann. 1888.

Datei:Van Gogh - Sämann bei untergehender Sonne1.jpeg

Van Gogh hat viel nachgedacht über das göttliche Licht und wie es die Menschen erreichen könnte in seinen Bildern. Dem Bruder Theo schreibt er: „Du weißt doch, wie eine der Wurzel- oder Grundwahrheiten nicht nur des Evangeliums, sondern der ganzen Bibel lautet: ‚Licht, das scheint in der Finsternis‘. Durch Finsternis zum Licht. Nun, wer wird es wohl sehr sicher brauchen, wer wird ein offenes Ohr dafür haben? Die Erfahrung hat gelehrt, dass jene, die in der Finsternis, im Herzen der Erde arbeiten, wie beispielsweise die Bergleute in den schwarzen Kohlengruben, vom Wort des Evangeliums tief ergriffen sind und auch daran glauben.“

Offenbar braucht es also neben Gottes Wirken, dem Licht seiner Liebe, unter der die Schöpfung werden und wachsen kann wie sein Wort im Herze eines Menschen reifen und erblühen kann, auch eine gewisse Offenheit bei der Zuhörerschaft. Gutes Land – der Begriff des Gleichnisses begegnet uns, wie eben schon erwähnt, in der gut gepflügten Erde in der vorderen Bildhälfte. Gute Erde kann nur gepflügte, offene Erde sein, denn allein die ist in der Lage, den Samen, respektive Gottes Wort aufzunehmen. Die gepflügte Erde begegnet uns bei van Gogh als Darstellung der verletzten, aufgewühlten menschlichen Seele – eine Seele, die einmal verletzt wurde, scheint schlicht aufnahmebereiter zu sein für die frohe Botschaft von der Liebe und Gnade Gottes.  Wo man hingegen Wunden, die das Leben uns schlug, Aufrisse und Einrisse übergeht oder zudeckt, fällt das Korn bzw. das Wort Gottes auf geschlossenen – mit anderen, nämlich Jesu Worten, auf steinernen oder felsigen oder ausgetretenen Boden auf dem es nicht fruchten kann. Es prallt gewissermaßen an uns ab. Es sagt uns nichts. Es geht uns nichts an. Van Gogh hatte ein Herz für die verletzten Seelen – vielleicht weil er selbst eine solche war. In jedem Fall scheint er die Hoffnung besessen zu haben, just durch seine eigenen schweren inneren Kämpfe, Enttäuschungen und Ängste eines Tages bereit zu sein, Gott und sein Wort in besonderer Weise am Werk zu sehen. Er schreibt: „Ich wünsche mir, dass einstmals eine Sonne über meinem Leben aufgehe. Ein Glanz. Dass eine lange vermisste Wärme sich über meinem Leben ausbreitete und alles Grelle in einem neuen sanften Licht erscheinen lasse.“Das Licht des Sonnenuntergangs – oder der Sternennacht.

 Musikalisches Zwischenspiel

Gedankengang 3

Vincent Van Gogh. Die Sternennacht. 1889.

Sternennacht (Vincent van Gogh)

„Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und die Feste verkündigt seiner Hände Werk. Ein Tag sagt’s dem andern, und eine Nacht tut’s kund der andern, ohne Sprache und ohne Worte; unhörbar ist ihre Stimme. Ihr Schall geht aus in alle Lande und ihr Reden bis an die Enden der Welt.“ (Psalm 19,2-5)

Kennen Sie Van Goghs Nachtbilder? Sie sind niemals dunkel – sondern voller Licht. Es mag Momente der Dunkelheit geben, wie im Fall der berühmten im Sommer 1989 entstanden „Sternennacht“ die überdimensional große, weil beklemmend nahe Zypresse im Vordergrund. In der Kunst des Mittelmeeraumes ist sie ein bekanntes Symbol für den Tod. Aber eigentlich ist diese Zypresse für van Gogh ein Jahr vor seinem eigenen frühen Tod nur wie eine Brücke, eine Verbindung zwischen der sehr kleinen Erde unten am Bildrand, mit ihren Bergen und der kleinen niederländischen Kirche mitten im französischen Dorf und dem weit über ihr ausgespannten Sternenhimmel. Fast drei Viertel des Bildes gehört dem Himmel – vermutlich um seine Herrlichkeit und Größe auszudrücken. Van Gogh schreibt:  „Nichts Geringeres als das Unendliche und das Wunderbare ist uns notwendig und der Mensch tut gut daran, sich mit nichts Geringerem zufriedenzugeben und sich nicht daheim zu fühlen, solange er es nicht erlangt hat. Das ist das Glaubensgeheimnis, das alle guten Menschen in ihren Werken ausgedrückt haben, alle, die ein wenig tiefer gedacht und nach mehr gesucht und mehr gearbeitet und geliebt haben als andere – die hinabgetaucht sind in die Tiefen des Lebensmeeres.“ Tatsächlich muten die Bewegungen des Himmels ja fast wie Meereswellen an in der Darstellung der „Sternennacht“. In einem Inferno aus Licht kreisen und drehen sich dort die Sterne wie Feuerräder und Lichtstrudel. Die Hoffnung könne man überhaupt am besten durch einen Stern ausdrücken, hat Vincent einmal geschrieben. Für ihn sind sie Ausdruck von „Feuer des Geistes und der Liebe“, „eine Kraft Gottes gegen die dunklen und bösen und schrecklichen Dinge der Welt und gegen die dunkle Seite des Lebens; es ist eine Kraft der Auferstehung, stärker als jede Tat, und ein Hoffnungsstrahl, der den geheimen Tiefen des Herzens  Bewusstsein und  Sicherheit bringt. Es findet Ausdruck in Worten, die einfach, aber beredt sind: „Ich verzweifle nie.“ Und an anderer Stelle bezeugt er: „Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht mit Gott spreche. Ich bin noch weit entfernt von dem Ziel das ich erreichen möchte (nämlich ein geheiligtes Leben. zu. Führen), aber mit Gottes Hilfe wird es mir gelingen.“

Klingt dieser Mann für sie wie der lebensmüde Verrückte, zu dem die Generationen nach ihm ihn zu stilisieren versuchten? Wie ein wahnsinniges Genie, das am Leben verzweifelt? Sich am Ende nicht nur in einem Anfall ein Ohr abschneidet, sondern sich selbst auf einem Feld in die Brust schießt, um zwei Tage lang elendiglich zu leiden und schließlich zu sterben? Für mich passt das nicht mit seinen Worten und Bildern zusammen.  Ja, sicherlich litt van Gogh an depressiven Episoden, beschreibt auch Angststörungen ebenso wie Visionen und wird in einer Nervenheilanstalt als Epileptiker behandelt. Aber er war mitnichten verrückt, sondern im Gegenteil ein hoch intellektueller, gebildeter und gleichzeitig zutiefst gottesfürchtiger Mann –  vielleicht in der Kombination die einzige Verrücktheit, die ich ihm zu attestieren bereit wäre. Das Einzige, was wirklich wahnsinnig an ihm erscheint ist für mich der Grad seiner Bereitschaft zu lieben. „Ich denke immer, das beste Mittel Gott zu erkennen, ist viel zu lieben,“ sagt er selbst.

Die Kunstgeschichtler der heutigen Zeit sind sich eigentlich einig, dass die Geschichte von van Gogh als wahnsinnigem Genie, das sich selbst das Leben nahm, eine bewusste Konstruktion der folgenden Jahrzehnte gewesen ist, eine Geschichte, die ihn und sein Werk interessanter und lukrativer in der Vermarktung machten. In jüngster Zeit wird noch einmal ganz neu diskutiert, wie es zu dem abgeschnittenen Ohr und seinem vermeintlichen Suizid kam. Steven Naifeh und Gregory White Smith, immerhin Gewinner des Pulitzer-Preises für Ihre Arbeiten, gehen in ihrem Buch über van Gogh davon aus, dass nicht er es war der sich auf einem Feld bei Auvers in der Nähe von Paris in die Brust schoss, sondern ein paar Jugendliche aus dem Dorf, die sich schon länger Scharmützel mit dem Sonderling lieferten und ihm bspw, eine Schlange in seinen Malkasten gelegt hatten. Die Autoren berufen sich auf damalige Arztberichte, die nahelegen, der Einschusswinkel sei für einen Selbstmord ausgespochen ungewöhnlich, es sei vielmehr von einem Distanzschuss auszugehen, und andere Aussagen von Zeitzeugen. Wie der schwerverletzte van Gogh am Ende seiner Kräfte bspw. den eineinhalb Kilometer langen Heimweg nach Auvers bewältigt haben soll, wo man ihn fand, war damals schon ein Rätsel. Und im Polizeibericht findet sich eine kleine Befragung von van Gogh auf dem Sterbebett, in welchem sich die Beamten erkundigten, ob er sich selbst habe töten wollen.“ Er dachte offenbar ein wenig über die Frage nach, bevor er antwortete: „Ich denke schon… beschuldigt niemand anderen.“ Der Schluss der Autoren zu dieser Äußerung lautet: „Er hat beschlossen, die Jungs zu beschützen und seinen Tod zu akzeptieren.“  „Ich fühle eine Kraft in mir, die ich entwickeln muss, hat van Gogh einmal geschrieben, ein Feuer, das ist nicht ersticken darf, sondern anfachen muss, obschon ich nicht weiß, zu. Welchem Ende es mich führen wird, und mich nicht wundern würde, wenn es ein düsteres wäre.. Unter manchen Umständen ist es besser, der Besiegte zu sein als der Sieger…“ „Die Menschen glauben heute ja noch immer, das Leben sei flach und gehe von der Geburt bis zum Tode. Doch wahrscheinlich ist das Leben rund und weit überlegener an Ausdehnung,… den Lehren Christi über die andere Hälfte unseres Daseins mehr oder weniger entsprechend.“ „Mir tut es gut, etwas Schweres zu machen. Dass hindert nichts daran, dass ich ein schreckliches Bedürfnis nach – soll ich das Wort sagen? –  nach Religion habe. Dann gehe ich in die Nacht hinaus und male die Sterne.“

Lied: „Starry, starry Night“ (Don Mc Lean) – Übersetzung

Die sternenklare Nacht färbt deine Palette blau und grau.
Du betrachtest den Sommertag mit Augen,
die die Dunkelheit in meiner Seele kennen.

Schatten auf den Hügeln zeichnen Bäume und Narzissen nach,
fangen den Wind und die Kälte des Winters ein
mit Farben auf einer schneeweißen Landschaft aus Leinen.

Und jetzt verstehe ich, was du mir sagen wolltest,
wie du gelitten hast, in Angst um deine geistige Gesundheit
und wie du versuchtest, dem Ausdruck zu verleihen.
Sie haben dir nicht zugehört, denn sie hatten keine Ahnung
Aber vielleicht tun sie’s jetzt.

Die sternenklare Nacht entzündet Blumen zu lodernden Flammen.
Wirbelnde Wolken, in einen violetten Nebel getaucht,
spiegeln sich in Vincents kobaltblauen Augen.

Bernsteinfarbene Kornfelder färben sich in der Morgensonne bunt.
Verwitterte Gesichter, vom Schmerz gezeichnet,
werden mit der liebevollen Hand des Künstlers geglättet.

https://www.youtube.com/watch?v=ddGcwoNHofM