„Dürers Blick auf die Reformation“ – Kunstgottesdienst am Reformationstag

Ein Kanzelgebet, inspiriert von Martin Luther:„Ach Herr, ich bin so unaufmerksam. Gib mir deine Gnade. Öffne mir das Herz, dass ich auf alles achten kann, was ich in der Predigt deines Wortes höre, und es auch behalte.“ (Luther)

Liebe Gemeinde! Ein Treffen der Giganten ist es – denn heute treffen in dieser Predigt zwei der berühmtesten und in ihrem jeweiligen Schaffensfeld einflussreichsten Deutschen aller Zeiten aufeinander. Zwei internationale Superstars, zwei Männer, die Geschichte geschrieben haben, zwei Männer, die Zeitgenossen waren und – für uns heute von besonderem Interesse: Zwei Männer, deren christlicher Glaube bei ihrem Schaffen eine nicht unwesentliche Rolle spielte, gelinde gesagt.

Die Rede ist von Martin Luther und Albrecht Dürer – dem großen Theologen und dem 12 Jahre älteren Maler, der ihn so gerne einmal porträtiert hätte. „Dürers Blick auf die Reformation“ – so haben wir im Rahmen unserer gegenwärtigen Abendgottesdienstreihe auf den Spuren bekannter Künstler das Thema der heutigen Predigt überschrieben. Mit Vincent van Gogh haben wir im September begonnen – heute begegnet uns mit Albrecht Dürer nun eine ganz andere Art von Maler: Nicht das verkannte, verarmte, tragische Genie, sondern der schon zu Lebzeiten international gefeierte, wohlsituierte und bestens vernetzte Künstler. Kaiser Maximilian I. zählt ebenso zu seinem Kundenstamm wie Kurfürst Friedrich der Weise oder die Wirtschaftsgrößen der damaligen Zeit, wie der Kaufmann Jakob Fugger. Dürer korrespondiert mit Michelangelo und Raffael, bringt die Renaissance von seinen Italienreisen mit nach Deutschland und wird so Namensgeber einer ganzen kunstgeschichtlichen Epoche: Der „Dürer-Zeit“. Ob traditionelle religiöse Stoffe wie das „Rosenkranzfest“ oder unerhört modern anmutende Experimente wie bspw. das erste völlig entblößte Selbstporträt eines Künstlers –  Dürer verleiht mit seinem schon von den Zeitgenossen erkannten und hoch verehrten Genie allen Sujets einen besonderen Glanz. Er versteht es, einen schlichten Feldhasen so präzise einzufangen, dass man die feinen Haare mit nahezu fotografischer Genauigkeit erkennt. Wie dem antiken Maler Apelles gelingt es dem „Apelles Germanicus“, dem deutschen Apelles, etwas so gänzlich Unbedeutendes wie ein Stück Rasen in ein naturgetreues Meisterwerk zu verwandeln, das völlig lebendig und bedeutungsvoll erscheint.

Dürer ist aber nicht nur kunstgeschichtlich sondern auch wirtschaftlich innovativ und erfolgreich. Er perfektioniert bspw. die Methoden, via Kupfer- und Holzschnitt hochwertige Vervielfältigungen zu erzeugen und kümmert sich um den Vertrieb und den Nachdruck seiner Werke. Sogar ein kunstvoll gestaltetes Monogramm „AD“ entwickelt er, mit dem er seine Bilder zu signieren pflegt, eines der ersten Echtheitszertifikate der Geschichte – lange bevor Luis Vuitton und Co auf die Idee kamen, mit ihrem Logo für Qualität zu werben.

Vieles mehr gäbe es über Albrecht Dürers Leben und Werk zu erzählen, aber dies soll ja keine Vorlesung in Kunstgeschichte werden, sondern eine Predigt. Dafür möchte ich nun die Thematik eingrenzen und Sie im Folgenden auf einen gedanklichen Dreischritt mitnehmen. In einem erste Schritt versuche ich aufzuzeigen, was Dürer eigentlich mit der Reformation zu tun hatte. Im zweiten Schritt nähern wir uns anhand eines seiner wohl berühmtesten Gemälden der Thematik des Gebets an – ich spreche dabei von der Studie der „Betenden Hände“, die Sie hoffentlich alle in Form einer Postkarte in den Händen halten. In einem dritten Schritt schließlich möchte ich einige Einsichten Luthers über das Gebet hinzufügen und verdeutlichen, warum seine Einsichten nicht nur für Dürer historisch hilfreich waren, sondern auch für unsere eigene Glaubenspraxis von Bedeutung sind. Denn mit Dürer einen Blick auf die Reformation werfen, kann nur heißen: Selbst hinzusehen, was es da für uns entdecken gibt.

  1. Dürers Blick auf die Reformation – ein Blick auf sein geistesgeschichtliches Umfeld

Albrecht Dürer ist mit Haut und Haar ein Kind der freien Reichsstadt Nürnberg – der innovativen und pulsierenden Metropole im Herzen Europas. Nürnberg ist damals einerseits ein mächtiger Knotenpunkt in Sachen Handel und Handwerk, gilt aber andererseits aufgrund seiner vielen Klöstern und Kirchen als die frömmste Stadt des ganzen Reiches. Die Bevölkerung lebt im Wohlstand. „Die schottischen Könige würden wünschen, so elegant zu wohnen die mäßig reiche Bürger Nürnbergs“, schwärmt 1457 der spätere Papst Pius II. nach einem Besuch an der Pegnitz. Damit einher geht ein überdurchschnittliches Bildungsniveau: Während im Rest des Landes gerade einmal jeder 20. Deutsche lesen kann, haben in Nürnberg 40% der Bürger eine Lateinschule besucht. Kein Wunder also, dass hier auch diverse Buchdrucker ansässig sind – darunter auch Dürers Patenonkel, stolzer Besitzer von sage und schreibe 24 Druckpressen!  Im Jahr 1471 wird Albrecht Dürer in dieses ebenso weltoffene wie ambitionierte Milieu hinein als Sohn eines aus Ungarn zugewanderten Goldschmieds geboren, hier ist er 1528 im Alter von 57 Jahren verstorben und auf dem Johannisfriedhof begraben worden.

In religiöser Hinsicht ist Dürer jahrzehntelang ein ziemlich unauffälliger Künstler gwesen: Am häufigsten stellt er den Kirchenvater Hieronymus dar, aber auch Mariendarstellungen, Papstmessen und andere traditionelle Stoffe zählen zu seinem Portefolio. Vom Humanismus eines Erasmus von Rotterdam stark geprägt, reibt er sich jedoch zunehmend an den kirchlichen Lehren. So erstaunt es nicht, dass er die ersten Vorläufer der Reformation in seiner Heimatstadt Nürnberg mit allergrößtem Interesse verfolgt. Johann von Staupitz, einigen sicherlich als Beichtvater des Mönchs Martin Luther im Augustinerorden bekannt, predigt im Herbst 1512 zum ersten Mal in der Kirche des Nürnberger Augustinerkonvents und setzt sich so nachdrücklich für Reformen innerhalb der Kirche ein, dass bei seinem nächsten Besuch das Gotteshaus den Besucherandrang schon nicht mehr fassen kann. Wie viele angesehene Bürger sucht auch Dürer das Gespräch mit ihm – und wird 1517 Mitbegründer eines

Freundes- und Gesprächskreises, der „Sodalitas Staupitziana“. Im Herbst des gleichen Jahres formuliert der von Staupitz nachhaltig geförderte Martin Luther die Glaubenssätze, die ihn berühmt machen – 95 Thesen, die sich dagegen wenden, dass die Gnade Gottes einen Preis hat. Kaum zwei Monate nach ihrer Veröffentlichung erscheinen Luthers Thesen in Nürnberg als Druckschrift (kurzer Hinweis an die Konfis:

Das war im Vor-Twitter/und BeReal-Zeitalter total schnell). Dürers Interesse ist geweckt: Anfang 1518 übersendet er dem Wittenberger Theologieprofessor eine seiner Druckgraphiken, um so den Gesprächsfaden aufzunehmen. Zu einem Zusammentreffen kommt es im Herbst 1518 auf der Reise Luthers zum Reichstag in Augsburg, an dem Dürer als Abgesandter seiner Heimatstadt ebenfalls teilnimmt. Luther predigt im Nürnberger Augustinerkloster seinen „Sermon von Ablass und Gnade“ – die „Staupitz“-Freunde sind so beeindruckt, dass sie sich umgehend in „Sodalitas Martiniana“ umtaufen. Als erste Bürger der Reichsstadt bekennen sie sich damit öffentlich zu Luther und seinen Lehren – kein Wunder dass verschiedene reformatorische Autoren wie Lazarus Spengler, der (so Luther voller Hochachtung) „allein das Evangelium in Nürnberg eingeführt hat“ und Karlstadt, Professor in Wittenberg, Dürer einige ihrer theologischen Schriften widmen – und Dürer selbst immer wieder in Wittenberg um die Übersendung von Lutherschriften nachsucht.

Wie sehr Dürer persönlich mit dem Anliegen der Reformation verbunden war, zeigt darüber hinaus seine sogenannte „Lutherklage“ vom Mai 1521. Der Künstler war gerade auf einer Reise in den Niederlanden, als Luther nach dem Reichstag in Worms plötzlich von der Bildfläche verschwand.

Natürlich wusste Dürer damals zunächst noch nichts vom Aufenthalt des Mönchs auf der Wartburg. In sein Tagebuch schrieb er deshalb:

Und lebt er (gemeint ist Luther) noch oder haben sie ihn ermordet, was ich nicht weiß, so hat er dies erlitten um der christlichen Wahrheit willen und weil er das unchristliche Papsttum gestraft hat, das da gegen die Befreiung durch Christus ankämpft.“

Ähnlich wie Dürer ergeht es vielen seiner Nürnberger Freunde und Bekannten – sie empfinden Luthers  Theologie als Befreiungsschlag. In der frommen Reichsstadt kommen bald schon auf jeden altgläubigen Bürger 20, die sich Luther angeschlossen haben. Darunter ist bspw. auch der Schuhmachermeister Hans Sachs, der zum Kreis der Nürnberger Meistersinger gehört. Er veröffentlich im Juli 1523 ein Gedicht, das ihn reichsweit bekannt macht und Luther einen Beinamen beschert: „Die Wittenbergische Nachtigall“.  Denn die Nachtigall, so Sachs, wecke mit heller Stimme die schlafenden Menschen aus der Finsternis auf. Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht weiter, dass Dürer 1525 im Zuge der Nürnberger Religionsgespräche erleben kann, wie seine Heimatstadt zur offiziell ersten evangelischen Reichsstadt wird – eine Entscheidung, die der Künstler ausdrücklich und öffentlich begrüßt.

Auch wenn Albrecht Dürer, anders als bspw. ein Lucas Cranach, nicht explizit Teil der protestantischen Bildpropaganda wird und sich abgesehen von einem Porträt Melanchthons weder am Personenkult um die Protagonisten der Reformation beteiligt, noch den Papst oder die römische Kirche diffamierende Flugblätter erstellt, begeistern und berühren ihn die theologischen Einsichten Luthers ohne jeden Zweifel tief. So äußert er in einem Schreiben an den kursächsischen Hofkaplan Georg Spalatin den innigen Wunsch nach weiteren Treffen mit Luther: „Und hilft mir Gott, dass ich zu Dr. Martin Luther komme, so will ich ihn sorgfältig porträtieren und in Kupfer stechen. Zu einem langen Andenken an den christlichen Mann, der mir aus großen Ängsten geholfen hat.“

  1. Die „Betenden Hände“

Diese Aussage, liebe Gemeinde, scheint ein guter Punkt zu sein, nun in den 2. Abschnitt überzuleiten. Den über das Gebet und Dürers weltberühmte Darstellung der „Betenden Hände“. Denn ich glaube, darin ruht eine Antwort auf die Frage, wie Luther mit seiner Lehre dem Künstler aus seinen Ängsten herausgeholfen hat – und wie er es vielleicht auch in unserer eigenen so angstbesetzten Gegenwart vermögen könnte, wenn wir Luther nicht nur historisch sondern auch theologisch ernst nehmen.

Allem Erfolg, allem Glanz und Glamour zum Trotz ist Albrecht Dürer wie die meisten seiner Zeitgenossen um das Jahr 1500 herum der Überzeugung, dass die Welt vor dem Untergang steht. Eine große Epidemie versetzt die Menschen in Angst und Schrecken – damals ist es die Pest. Dazu kommt die Angst vor Überfremdung – die Türken dringen unaufhaltsam immer weiter nach Europa vor und bedrohen das christliche Abendland. Dazu konstatiert man einen allgemeinen Werteverfall – Hochmut, Neid und Zügellosigkeit trieben die Gesellschaft zunehmend in den Ruin. So werde die Menschheit nun in dieser Zeitenwende für ihr Fehlverhalten bestraft – mit Naturkatastrophen und Kriegen, Hungersnöten, Preisinflationen und Krankheiten. Dürer verleiht der allgegenwärtigen Weltuntergangsstimmung seiner Zeit 1497 meisterlich Ausdruck in einer detailreichen Darstellung der Apokalypse. Im Holzschnitt der „4 Apokalyptischen Reiter“, führt er bspw. vor Augen, wie Krieg, Teuerung, Krankheit und Tod über die Welt hinweggaloppieren und jeden vernichten, der ihnen im Wege steht. Sie kommen wie ein unabwendbares Verhängnis über die Menschheit, die durch ihr Verhalten die negativen Kräfte provoziert haben. Die Menschen sind also selbst schuld an ihrem Untergang – „Tun-Ergehen-Zusammenhang“, nennt das die Theologie. Jede Handlung, ob Gut oder Böse, hat demnach eine entsprechende Konsequenz.

Ähnlichkeiten zur gegenwärtigen Weltdeutung sind – nicht ganz zufällig. Nur dass man damals das göttliche Weltgericht dafür verantwortlich macht und nicht rein diesseitig an den Klimawandel u.ä. gedacht hat. Angst – und die große Frage, wie man mit ihr im Nacken sein Leben gestalten soll, sie treiben nicht nur Albrecht Dürer und  uns um. Sie sind auch ein Lebensthema Luthers – sind der Hintergrund, vor dem er seine Theologie entwickelt und warum ihm das Evangelium Jesu Christi so existentiell zur frohen Botschaft gerät.

Werfen wir noch einen Blick auf ein anderes Werk Dürers. Auf eine Federzeichnung mit schwarzer Tinte auf blauem Papier, mit feinen, akzentuierenden weißen Aufträgen. Die „Betenden Hände“ aus dem Jahr 1508, ein Meisterwerk analytischer Beobachtung. Helle Schraffuren deuten darauf einen Lichteinfall auf der linken Seite des Bildes  an, der für mein Empfinden von einer aufgeschlagenen Bibel in der linken Ecke unten ausgeht. Voller Seele und Charakter stecken diese himmelwärts gerichteten Hände, voll von gelebtem Leben, erlittenem Schmerz, harter Arbeit. Sie sind echt und authentisch, nicht idealisiert oder geschönt – Hände, die vom Leben gezeichnet sind. Unser aller Hände vielleicht – und vielleicht deshalb so allgegenwärtig. Kein anderes Bild Dürers war so gefragt, keines wurde häufiger reproduziert als dieses, wenn auch leider für den Hausgebrauch oft verkitscht. Aber Dürers betende Hände gehören nach wie vor zu den beliebtesten Motiven auf Gräbern und in Todesanzeigen, finden sich wieder als Tatoos auf muskulösen Oberarmen  wie auch stilisiert als Emoji im Smartphone. Dürers betende Hände wurden von Andy Warhol ebenso modern und poppig bearbeitet und interpretiert wie in ganz  anderer Hinsicht vom griechischen Street-Art-Künstler Manolis Anastasakos – der an einer Hauswand auf über 600 Quadratmetern Dürers betende Hände dort Kopf stehen lässt, so dass sie von oben aus dem Himmel zu kommen scheinen. Der Künstler erklärt: „Wir haben Lösungen für unsere Probleme gesucht. Mit dieser Frage kann man sich eigentlich nur noch an Gott wenden. Und die Idee unserer Künstlergruppe mit diesem Wandbild war  zu zeigen, dass Gott jetzt für uns betet.“ Der Trost der betenden Hände – bis heute. Nicht zuletzt dank Luther.

  1. Luther und das Gebet

Bei der Beerdigung Luthers im Jahr 1546 hätte man als Grabredner wohl vieles zu sagen gehabt über diesen Mann, der die Welt Kraft seines Vertrauens in das Wort Gottes verändert hat. Luthers Freund und enger Mitarbeiter Philipp Melanchthon jedoch greift in diesem entscheidenden Moment eine ziemlich unerwartete Sache heraus, die er als wesentlich für Luthers Leben erkannt hat. „Er lehrte und lebte das rechte Gebet!“ sagt Melanchthon schlicht. Das macht für ihn als engen Weggefährten und Freund den großen Reformator aus: „Er lehrte und lebte das rechte Gebet.“

Luther selbst hat zu Lebzeiten tatsächlich keinen Zweifel daran gelassen, als wie essentiell er das Gebet erachtet. Er schreibt: „Man kann keinen Christen finden ohne Beten – so wenig wie man einen lebendigen Menschen ohne den Puls finden kann, den Puls der nimmer still stehet, der reget und schlägt immerdar…“ Wenn aber Beten wie der Pulsschlag ist, dann ist offenbar ein Christ ohne Gebet – geistlich so gut wie tot. „Wenn ich auch nur einen einzigen Tag das Gebet vernachlässige, verliere ich viel vom Feuer des Glaubens,“ meint Luther und setzt nach: „Eines Schusters Handwerk ist Schuhe machen, eines Christen Handwerk ist beten!“ Wenn Beten wie ein Handwerk ist, dann liegt auch nahe, dass man es keinesfalls wie selbstverständlich einfach beherrscht, sondern dass es geübt sein will wie eine Kunst.

So wie die Hand des Malers sich im feinen Pinselstrich übt, so übt der Christ im Gebet, sein Leben und diese Welt vertrauensvoll in Gottes Hand zu legen. Just dieses Vertrauen in Gott aber hat Luther lange gefehlt. Die Angst stand ihm im Weg – vor Gottes Strenge und seiner knallharten Gerechtigkeit: „Ich hasste den gerechten Gott, der die Sünder verdammte!“erinnert sich Luther später. Ich glaube, Hass und Gebet geht nicht zusammen. Niemand betet gern zu einem unbarmherzigen Gott, niemand schüttet sein Herz freimütig und vertrauensvoll bei einem strengen Richter aus – eher vielleicht bei einer nachsichtigen Mutter. Und so war es irgendwann in der Kirche wie in der Volksfrömmigkeit Mode geworden, nicht zu Gott zu beten oder zu Christus, der unendlich weit weg und unerreichbar in den Himmel entrückt schien, sondern zu Maria, seiner Mutter, oder, wenn auch die als Himmelskönigin zu erhaben wurde, zu deren Mutter, Anna. „Heilige Anna, hilf mir! Ich werde Mönch!“ hat Luther selbst einst im Gewitter auf dem Stotternheimer Feld gebetet, in Todesangst. Nicht zu Gott, nicht zu Christus hat er sich gewandt, als es hart auf hart ging – sondern zur Heiligen Anna, Denn der Allmächtige blieb unheimlich und fern und schwer zufriedenzustellen, blieb ein Quell der Furcht, des Zweifelns und Haderns. Blieb es, bis Luther von Paulus im Verbund mit dem Heiligen Geist nachdrücklich daran erinnert wurde, dass Christus uns einen liebenden Gott offenbart hat.

Einen, der vergibt, der Gerechtigkeit nicht erwartet sondern schenkt, indem er selbst Mensch wird und sich mit Haut und Haar hingibt. Ein guter Vater verlorener Söhne, ein guter Hirte verlorener Schafe, ein Gott, der beileibe nicht fern ist, sondern so nahe, dass er Angst kennt und Leid und Tränen – aus eigener Anschauung. Diesen Gott, diesen Gott in Christus, und zwar „Solus in Christus!“, den konnte Luther am Ende einer langen Suche nach Heil für seine Seele, auf seiner Suche. nach Frieden, schließlich lieben. Nur ihm konnte er sein Herz öffnen und es ihm schenken. Zu diesem Gott konnte er Vertrauen haben, ihm seine Angst und Schuld offenbaren, sich in ihm bergen vor einer Welt, die uns damals wie heute oft an die Grenzen unserer Kraft und Zuversicht bringt. Zu diesem Gott in Christus konnte Luther beten.

Wir wissen nicht, wen Dürer vor Augen hatte, als er die „Betenden Hände“ schuf, wer der Adressat dieses Gebets war. Aber wir wissen zumindest, dass Dürer seit 1520 keine Mariendarstellungen mehr erschaffen hat und keine Bildnisse von Heiligen. Auch sind uns Gebete Dürers aus späterer Zeit überliefert, die sich an Christus richten wie an einen Anker im Wahnsinn der Welt, wie ein Licht der Hoffnung gegen die Angst: „Hilf uns, deine Stimme zu erkennen, hilf uns, uns nicht vom Wahnsinn der Welt verführen zu lassen, damit wir niemals von dir abfallen, o Herr Jesus.“ 

Und in einem kunstdidaktischen Werk, der „Unterweisung der Messung“ von 1525 schreibt Dürer ein Bekenntnis zum evangelischen Glauben: „Das Wort Gottes bleibt ewig; dieses Wort ist Christus, das Heil aller Christgläubigen“. Dieses Wort, das gilt es im Beten zu hören, hat Luther immer wieder betont: Beim Lesen und Meditieren kurzer Verse aus den Evangelien, den Paulusbriefen oder den Psalmen. Ihnen gilt es zuzuhören: „Ich habe oft in einem einzigen Gebet mehr gelernt als aus viel Lesen und Nachdenken,“ befindet der kluge Professor der Theologie. Mehr noch als darum, seine Wünsche vorzubringen, sie „Gott in die Ohren zu reiben“, wie er sagt, gehe es beim Beten darum, Gottes Willen zu erfahren und sein Leben danach auszurichten. Diese Einsicht half dem Reformator, damit fertig zu werden, wenn Gott seine Gebete nicht oder nicht sofort erhörte. Er sagt: „Wenn Gott uns nicht gibt, was wir bitten, wird er uns geben, was besser ist.“ Das, liebe Gemeinde, ist Vertrauen. Das ist die Freiheit von Angst. Das ist der Mut, und die Demut, beides zugleich. Das ist Beten. „Christen, die beten, sind wie Säulen, die das Dach der Welt tragen“, sagt Luther. Vielleicht kommt alles hier ins Wanken, wenn wir nicht mehr beten. Wenn wir dieser Welt kein Vertrauen ins Gute mehr leihen, keine Hoffnung, keine Liebe. „Betende Christen sind wohl arme Bettler, aber sie machen doch viele reich,“ erkennt Luther.

Mögen die betenden Hände Dürers nicht nur ein Kunstwerk sein, sondern ein Werk, das uns tagtäglich an unser ureigenstes Handwerk erinnert – das Gebet, der Pulsschlag unseres Christseins – und der Reformation.

Luthers Wort hat diese Predigt eröffnet, so möchte ich heute auch mit einem Ausspruch von ihm schließen: „Ich habe getan, was ich konnte. Was aber an mir und meinem Können fehlt, das, Herr, mache du, damit dein Wille geschieht“ (Luther)

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