„Was ist der Sinn des Lebens?“

John ist stets in Eile. Als gestresster Manager hat er viel um die Ohren und steht ständig unter Strom. Der Stau und die Vollsperrung auf dem Highway, auf dem er unterwegs ist, sind für ihn nur schwer auszuhalten. Beim Versuch, eine andere Route zu finden, verfährt er sich – und irrt nachts ohne Karte auf unbekannten Wegen und mit immer alarmierenderer Tankanzeige orientierungslos durch eine menschenleere Gegend. Mitten im Nirgendwo stößt er auf kleines Café, in dem er eigentlich nur kurz Rast machen möchte. Doch dann entdeckt John auf der Rückseite der Speisekarte unter der Überschrift: „Dinge, über die Sie nachdenken können, während Sie warten“ drei Fragen.

So beginnt eine Suche nach Antworten und aus der Reise auf dem nächtlichen Highway wird in einem philosophischen Gespräch eine Reise zum eigenen Selbst. Eine Reise, die John und sein Leben grundsätzlich verändern werden. Die Gespräche mit der spitzbübisch lächelnden Kassiererin Casey, dem weisen Küchenchef Mike und dem Freigeist Anne, einem anderen Gast, geben ihm dazu wichtige Impulse. So wird das „Café der Fragen“ zum Wendepunkt im Leben von John.

Ein Wendepunkt zum Guten, zu mehr Sinn und Erfüllung im Leben, die offensichtlich auch die Leserinnen und Leser von John Streleckys kleiner, autobiographisch angehauchter Erzählung vom „Café am Rande der Welt“ erhoffen und ersehnen – wenn man das an. den Bestsellerlisten, den Millionen von verkauften Exemplaren, den Nachfolgebänden, Seminaren und Lebenscoachings ablesen kann, die der Erstveröffentlichung im Jahr 2006 folgten. Sein Buch und die darin aufgeworfenen existentiellen Lebensfragen haben offensichtlich einen Nerv getroffen. Auch wir wollen ihnen heute Abend nachgehen in drei Gedankengängen, die Volker Reichel für uns jeweils musikalisch mit seiner Gitarrenmusik rahmen wird – Zeit zur Ruhe zu kommen und gleichzeitig kreative Auszeiten für Euch und Sie alle, um der Frage nach dem Sinn des Lebens ganz persönlich nachzugehen, in den eigenen Gedanken.

Liebe Gemeinde!

Manchmal sind es nicht so sehr die besten Antworten als vielmehr die richtigen Fragen, die uns im Leben weiterbringen. In der Erzählung „Das Café am Rande der Welt“ werden wir gemeinsam mit dem Protagonisten John vor drei solche existentiellen Fragen gestellt:

  1. Warum bist du hier?
  2. Hast du Angst vor dem Tod?
  3. Führst du ein erfülltes Leben?

Erster Gedankengang – die Frage nach dem Sinn des Lebens

John, der ja ein echter Macher ist, will in der Geschichte zunächst nicht recht einsehen, warum er sich überhaupt mit so einer hochphilosophischen Frage beschäftigen sollte. Er ist überzeugt, sein Leben im ziemlich gut Griff zu haben und antwortet Kassiererin Casey, als diese mit ihm ins Gespräch kommen will, recht lapidar: „Ich weiß nicht, warum sich irgendjemand diese Frage je stellen sollte. Ich habe sie mir nie gestellt, und mir geht es gut.“ Doch bei genauerem Nachdenken wird ihm rasch klar: „Gut“ gehen – das ist ein relativer Begriff. Klar, er hatte einen interessanten Job und auch gute Freunde, könnte eigentlich zufrieden sein. Aber wenn er ehrlich zu sich selbst ist, hat John immer wieder auch so ein vages Gefühl, dass es da noch „Mehr“ geben müsste im Leben, etwas Erfüllenderes, Größeres. Etwas, das Casey mit den Worten „Zweck der Existenz. ZDE“ beschreibt – eine Schlüsselkategorie des Romans. Jeder Mensch muss ihr zufolge für sich ganz persönlich eine Antwort auf die Frage: „Warum bist du hier?“ suchen und finden und sich dabei seiner eigenen Bestimmung bewusstwerden. Dann sagt Casey: „Sobald jemand die Antwort kennt, entsteht eine … starke Kraft. Sobald ein Mensch weiß, warum er hier ist, warum er existiert, welchen Grund es dafür gibt, dass er am Leben ist, wird er den Wunsch haben, dem Sinn und Zweck seiner Existenz gerecht zu werden.“ Damit verbunden ist in der Erzählung die Vorstellung einer großen inneren Freiheit: Denn, so die These des Autors John Strelecky:  Ich kann tun und lassen was immer ich will, solange es nur meiner Bestimmung entspricht, wird es mich zu einem erfüllten Leben führen. Ich selbst habe die Wahl, für mich zu definieren, ob mein Leben dem Bestreben gewidmet sein soll, Millionär zu werden und die dafür nötigen Schritte zu gehen, oder aber Menschen in Not zu helfen und dementsprechend zu handeln. Ich entscheide über den Sinn und die Richtung meines Lebens.

John erkennt rasch, dass die Frage nach dem Zweck seiner Existenz ihn freisetzt von den Faktoren, die bisher für seine Entscheidungen ausschlaggebend gewesen sind: Die Ratschläge der Familie, die Meinung anderer Leute oder gewisse äußere Umstände. Die einzige verbindliche Richtschnur ist der „ZDE“, der „Zweck der Existenz“. Diese Verwirklichung des eigenen „ZDE“ führt laut Casey zu einem erfüllten Leben, wohingegen die Menschen, die sich nicht erfüllt fühlen, im Wesentlichen dadurch gekennzeichnet seien, dass sie zwar auch jede Menge Dinge täten. Jedoch seien es meist Dinge, die jedoch nichts mit ihrem „ZDE“ zu tun hätten. John erkennt: „Da ich nicht genau weiß, warum ich hier bin und was ich tun möchte, tue ich mehr oder weniger das, was die meisten Menschen eben so tun.“ „Bringt es Sie Ihrer Erfahrung nach Ihrem ZDE näher, wenn Sie tun, was die meisten Menschen tun?“ fragt Casey.

Und dann erzählt sie John die Geschichte von der großen, grünen Meeresschildkröte, sicherlich eine Schlüsselstelle des Romans. Während eines Urlaubs in Hawai ging Casey Schnorcheln und entdeckte dabei die Meeresschildkröte. Erstaunt stellte Casey fest, dass es ihr selbst nicht gelang so schnell zu schwimmen wie die Meeresschildkröte, obwohl es so aussah, als würde diese sich ziemlich langsam und wie von selbst vorwärts bewegen, während Casey sich mächtig anstrengte und schließlich erschöpft, enttäuscht und etwas beschämt aufgeben und hinter der Schildkröte zurückbleiben musste. Am nächsten Tag kehrte Casey zurück, wiederholte das Experiment und entdeckte das Geheimnis der Meeresschildkröte: Sie passte die eigenen Kräfte denen der unsichtbaren Strömung an. Die Schildkröte nutze jene Wellen, die sie nach vorne trieben, aber sie kämpfte nicht gegen die Wellen, die sie bremsten. Sie nutzte die Kraft der Wellen für sich. Casey hingegen konnte nicht mithalten, weil sie die ganze Zeit hindurch strampelte, egal in welche Richtung das Wasser strömte. Das war sehr kräftezährend und ermüdend.

Es dauert einen Moment, bis John die Botschaft der Geschichte von der Grünen Meeresschildkröte für die Gestaltung unseres Lebens durchschaut: Die meisten Menschen paddeln durch ihr Leben ohne Sinn und Ziel, strengen sich wahnsinnig an, kämpfen gegen die Strömung und sind am Ende einfach nur ausgelaugt und erschöpft. Dabei könnte man viel entspannter und leichter vorankommen, wenn man wie die Meeresschildkröte einfach die Energie nutzen würde, die einem dem eigenen Ziel, nämlich der Verwirklichung seines ZDE, näherbringt und alles andere einfach los- und geschehen lassen. Casey konkretisiert seine Gedanken: „Jeden Tag versuchen so viele Menschen, uns zu überreden, Zeit und Energie für sie aufzubringen. Denken Sie nur einmal an Ihre Post. Wenn Sie sich auf jede Aktivität, jede Verkaufsaktion und jedes Dienstleistungsangebot einlassen würden, worüber Sie informiert werden, hätten Sie keine freie Zeit mehr. Und das ist lediglich Ihre Post. Wenn Sie zudem alle Menschen dazurechnen, die Ihre Aufmerksamkeit auf etwas lenken wollen – bspw. auf das Fernsehprogramm, auf Restaurants, Reiseziele…. – dann tun Sie möglicherweise bald das, was alle anderen auch tun oder von ihnen erwarten. (…)“ Das Auswahlkriterium dafür, mit wem und mit was meine seine Zeit verbringt, ist laut Casey ausschließlich durch den „ZDE“ bestimmt: Menschen, Aktivitäten und Dinge, die dabei helfen könnten, den eigenen ZDE zu erfüllen, seien wie Wellen, die einen nach vorne treiben, die anderen, die nichts mit dem eigenen ZDE zu tun hätten, hingegen Wellen, die einen bremsen.

Je länger er im „Café der Fragen“ verweilt, desto mehr wird John bewusst, dass er bislang sein „wahres“ Leben immer auf einen Zeitpunkt x in der Zukunft hin gelebt hat, eine Lebensphase, in der er endlich genug Geld und Zeit und Möglichkeiten haben würde, seine Träume zu leben. Küchenchef Mike bekräftigt: „Ich erkannte, dass mir jeder Tag die Gelegenheit bietet, zu tun, was immer ich möchte. Jeden Tag habe ich die Möglichkeit, die Antwort auf die Frage zu verwirklichen, die Sie auf der Rückseite der Karte gesehen haben. Die Antwort auf die Frage: „Warum bin ich hier?“

Warum bin ich hier?

Musikalisches Zwischenspiel

Zweiter Gedankengang – die Frage nach der Angst vor dem Tod und nach dem erfüllten Leben

Mittlerweile ist Anne zu dem Gespräch an Johns Tisch hinzugetreten, die Stammgast ist im „Café am Rande der Welt“. Früher war sie in einer hohen Position in der Werbebranche tätig und aus dieser Perspektive heraus liefert sie John eine Erklärung dafür, warum die meisten Menschen viel Zeit damit verbringen, sich auf eine Zukunft vorzubereiten, in der wir tun können, was wir wollen, anstatt diese Dinge einfach sofort zu tun. Jeden Tag würden uns die Unternehmen und Medien Botschaften vorsetzen, die an unsere Ängste und Sehnsüchte appellieren.

Die Botschaften sollen Menschen davon überzeugen, dass sie durch ein bestimmtes Produkt oder eine Dienstleistung Erfüllung finden und glücklich werden. So bekommt ihr Leben angeblich einen Sinn. Deswegen kaufen Anne zufolge wir immer wieder Dinge oder gehen auf Freizeitangebote ein, von denen wir hoffen, dass sie uns glücklich machen. Um uns all das leisten zu können, müssen wir freilich arbeiten und Geld verdienen. Und da die meiste Arbeit nun mal stressig und anstrengend ist, brauchen die Menschen schließlich noch mehr Produkte, die sie angeblich glücklich machen. Es sei ein wahrer Teufelskreis: „Ich erkannte, dass das Leben an mir vorbeiging, dass ich die Tage mit einem Job verbrachte, der mir nicht viel bedeutet, und dass ich versuchte, mich dafür zu entschädigen, indem ich Dinge kaufte, die mir in Wirklichkeit auch nicht wichtig waren.“ Erinnerte sich Anne und leitete zur 2. Frage auf der Speisekarte über:

„Hast du Angst vor dem Tod?“

Anne ist der Meinung, dass wir Menschen insbesondere dann Angst vor dem Tod haben, wenn wir NICHT nach unserem Zweck der Existenz leben. Diese Angst könne bewusst oder unbewusst sein, sei aber dennoch präsent. Menschen wüssten einfach, dass sie mit jedem verstrichenen Tag einen Tag weniger die Chance haben, die Dinge zu tun, die sie sich im Leben wirklich wünschen. Daher hätten sie Angst vor dem Tag X irgendwann in der Zukunft, an dem es keine Chance mehr geben wird. Wer hingegen seine Bestimmung erkennt und dementsprechend lebt,  wer jetzt schon Tag für Tag die Dinge tut, die er wirklich tun möchte, der braucht vor dem Tag, an dem er sterben wird, keine Angst mehr zu haben. Denn, wie John festhält: „Man kann nicht befürchten, keine Möglichkeit mehr zu haben, etwas zu tun, wenn man es bereits getan hat oder es jeden Tag macht.“

Die zweite Frage nach der Angst vor dem Tod hat John eine Brücke gebaut zur dritten und letzten:

 „Führst du ein erfülltes Leben?“

John wird ziemlich schnell klar: „Solange du lediglich weißt, warum du hier bist, aber nicht auch entsprechend handelst, wirst du keine Erfüllung finden.“ Natürlich hegt John Bedenken, was es konkret heißen würde, konsequent seinem „ZDE“ gemäß zu leben. Dass er dann möglicherweise nicht mehr genug Geld erwirtschaften würde. Dass er nicht gut genug sein könnte in dem Feld, das er sich ausgesucht hat. Casey aber überzeugt ihn, dass Menschen, die ihrer Bestimmung folgen, automatisch viel mehr Motivation, Energie und Begeisterung für ihre Aufgaben mitbrächten und aus diesem Grund in der Regel auch Erfolg hätten. Außerdem seien sie für ihr Glück viel weniger auf Geld angewiesen, da sie sich keine Erfüllung im Konsum mehr suchen müssten. Hinzu komme noch, dass Menschen, die für eine bestimmte Aufgabe brennen, häufig andere Menschen mitrissen und begeisterten, so dass sie viel Hilfe und Unterstützung für ihre Vorhaben erfahren. Ein erfülltes Leben – das ist machbar, suggeriert uns Lebenscoach John Strelecky in seinem Roman.

„Wir alle bestimmen unser Schicksal selbst,“ lässt er Küchenchef Mike resümieren. Und wenn wir es nicht täten, dann werde unser Schicksal eben von anderen bestimmt und von allen möglichen äußeren Faktoren beeinflusst. Dabei seien in Wahrheit wir selbst es, die jeden Moment unseres Lebens kontrollieren. Und nur wir selbst sind (der Logik des „Cafés am Rande der Welt“ zufolge). in der Lage, eine tragende Antwort zu finden auf die Frage:

  1. Warum bist du hier?
  2. Hast du Angst vor dem Tod?
  3. Führst du ein erfülltes Leben?

Jeder Mensch muss im „Café am Rande der Welt“ die Antwort auf diese Fragen selbst für sich herausfinden. Und die Menschen tun das auf unterschiedlichste Weise. Es gibt kein Patentrezept, das bei jedem funktioniert. Aber es ist ein guter Anfang, legt die Erzählung uns nahe, eine Situation zu schaffen, in der man sich auf die Frage wirklich konzentrieren kann. Allein. Und wenn man sich dann noch verschiedenen Erfahrungen aussetzt, neue Ideen kennen lernt und seine eigenen Reaktionen darauf beobachtet.

Die Erzählung aus dem „Café am Rande der Welt“ ist fast zu Ende, als John Mike danach fragt, was ihn einst dazu veranlasst habe, die drei Fragen auf die Speisekarte zu. drucken. Mike erzählt: „Vor einigen Jahren führte ich ein ziemlich hektisches Leben. Abends ging ich zur Universität, da ich ein Aufbaustudium machte. Tagsüber arbeitete ich in einem Vollzeitjob und jede restliche freie Minute trainierte ich… Zweieinhalb Jahre lang war jeder Moment meines Lebens verplant. Nachdem ich mein Aufbaustudium abgeschlossen hatte, kündigte ich meine Arbeit und nahm mir den Sommer über frei… Ich entschloss mich, zusammen mit einem Kumpel… nach Costa Rica zu fahren, um unseren Abschluss zu feiern. Wochenlang bereisten wir das Land. Wir wanderten durch den Regenwald, beobachteten die Tiere und tauchten in eine neue Kultur ein. Eines Tages saßen wir auf einem Baumstamm, aßen frische Mangos und beobachteten, wie die Wellen sich an dem unglaublich schönen Strand brachen. (…) Als die Sonne unterzugehen begann, färbte sich der Himmel von einem klaren Blau in rosa- und orangefarbene Töne, bis er schließlich tiefrot war. (…) Ich erinnere mich daran, dass ich das ganze Schauspiel beobachtete und zu folgender Erkenntnis kam: Während der letzten zweieinhalb Jahre war jede Minute meines Lebens verplant gewesen. In dieser Zeit hatte sich dieses Schauspiel jeden Tag wiederholt. Das Paradies war nur ein paar Flugstunden und einige Kilometer auf ungeteerten Straßen entfernt gewesen, und ich hatte es nicht einmal gewusst, dass es existierte. Ich erkannte außerdem, dass es nicht nur die letzten zweieinhalb Jahre existiert hatte, in denen ich so beschäftigt gewesen war. Seit Millionen, wenn nicht sogar Milliarden von Jahren geht die Sonne dort unter, und die Wellen brechen sich dort auf dem Strand. In diesem Moment fühlte ich mich sehr klein. Meine Probleme, die Dinge, die mich gestresst hatten, meine Sorgen über die Zukunft schienen allesamt völlig unwichtig zu sein. Egal, was ich in meinem Leben tat oder nicht tat, ob meine Entscheidungen richtig oder falsch waren, die Welt würde noch lange existieren, nachdem ich nicht mehr am Leben war. Ich saß da und sah mich dieser unglaublichen Schönheit und Erhabenheit der Natur sowie meiner Erkenntnis gegenüber, dass mein Leben ein winzig kleines Element von etwas viel Größerem war, und in diesem Moment traf mich plötzlich der Gedanke: „Warum bin ich eigentlich hier?“ Wenn all die Dinge, die ich für so wichtig gehalten habe, es in Wirklichkeit gar nicht sind, was ist dann wichtig? Was ist der Sinn und Zweck meiner Existenz? Warum bin ich hier?“Danke Mike,“ sagt John da, „das ist eine tolle Geschichte.“Das ganze Leben ist eine tolle Geschichte, John!“ kontert Mike, „Einige Menschen erkennen bloß nicht, dass sie selbst die Autoren sind und die Geschichte so schreiben können, wie sie es möchten.“

Führst du ein erfülltes Leben?

Instrumentales Zwischenspiel

Dritter Gedankengang – Die großen Fragen nach dem Sinn des Lebens und was mir mein christlicher Glaube dazu sagt

Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, liebe Gemeinde? Aber ich bekam beim Lesen des Romans durchaus Lust, mein Leben neu zu bedenken, vielleicht ein paar Weichenstellungen vorzunehmen. Sich neu zu besinnen, wo man selbst sich verirrt hat und vielleicht falsch abgebogen ist. Eine Auszeit im „Café am Rande der Welt“ zu nehmen, den eigenen Lebenshunger stillen zu lassen wie John, der dort mitten in der Nacht mit einem opulenten amerikanischen Frühstück verwöhnt wird, von dem er gar nicht genug bekommen kann.

Aber ganz ehrlich: Manches davon schmeckt mir nicht. Und da meine ich jetzt weniger das amerikanische Frühstück mit Pancakes, Speck und Eiern und Erdbeer-Rharbarber Kuchen, das John vertilgt, sondern an dem Roman und seinen Schlüsselthesen.

Da ist einmal diese typisch amerikanische „Du kannst alles erreichen, wenn du nur willst“- Ideologie. Eine Überzeugung, die ohne Zweifel Kräfte verleihen und wahnsinnig motivieren kann, die aber angesichts mancher Lebensschicksale auf mich auch einfach nur zynisch wirkt.

Denn sie berücksichtigt persönliche Schicksalsschläge wie bspw. Krankheiten, Unfälle, Verbrechen, Krisen aber auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen, Strukturen und Ereignisse wie Kriege nur unzureichend  – denn es gibt ja sehr wohl Dinge, über die ich keine Kontrolle habe. Mit der Sichtweise des Romans, dass jeder Mensch für sein Glück und auch sein Scheitern vollständig selbst verantwortlich ist, lege ich dem Menschen für mein Empfinden nicht nur eine Chance nahe sondern auch eine große Bürde auf. In der Theologie des Alten Testaments findet sich der sogenannte Tun-Ergehen-Zusammenhang: So wie du handelst, so wird es dir ergehen. Im Alten Testament sorgt Gott für diese Konsequenz – John Strelecky kommt vollständig ohne Gottes Eingreifen aus und legt es dem Menschen nahe, dass er sich selbst aus einem unerfüllten Leben durch eigene Entscheidungen und Taten erlösen und befreien kann. Aus evangelischer Sicht eine nicht ganz unproblematische Schlussfolgerung, über die sich sicherlich trefflich diskutieren ließe.

Die Denkweise des Romans übersieht darüber hinaus für meinen Geschmack auch, dass bestimmte Zwänge und Vorgaben nicht annähernd so spielerisch zu überwinden sind, wie John Strelecky das seinen Leserinnen und Lesern nahelegt.  Das liegt u.a. daran, dass wir Menschen nicht isoliert in diesem Universum leben, sondern in ganz unterschiedlichen Abhängigkeitsbeziehungen zueinander. Es gibt Menschen, die sich zu Recht auf mich verlassen, die von meinen Entscheidungen mit betroffen sind und die ich insofern auch in die Gestaltung meines Lebens mit einbeziehen muss und will. Menschen, für die ich verantwortlich bin und vor denen ich mich verantworten muss. Und das beschränkt meine angeblich unbeschränkte Freiheit. Ja, ich kann meinem Leben einen Sinn geben und versuchen, ihm entsprechend zu leben – aber eben nur im Rahmen meiner Möglichkeiten. Ich Co-kreiere mein Leben, zusammen mit der Welt und den Menschen um mich herum. Es gibt Dinge, die wir verändern können, und sicherlich auch verändern sollten, es gibt aber auch Dinge, die wir akzeptieren müssen und wir sollten weise genug sein, den Unterschied dazwischen zu erkennen – das legt ja schon ein bekanntes Sprichwort nahe. Dass mein Leben beschränkt ist heißt ja nicht, dass es nicht erfüllt sein könnte.

Als Pfarrerin und als Christin hat mich die Lektüre von „Das Café am Rande der Welt“ in vielerlei Hinsicht nachdenklich gestimmt. Ich liebe die großen Fragen, die es über unser Leben aufwirft. Sie beschäftigen mich, nicht nur aus beruflichen Gründen, selbst schon seit vielen Jahren: Die Angst vor dem Tod, die Suche nach einem erfüllten Leben, die sich fast unweigerlich daraus ergibt und die Frage, was der Sinn meines kleinen Lebens auf dieser so widersprüchlichen wie wundervollen Welt eigentlich ist. Ich glaube, es sind mehr als alles andere diese Fragen, die mich überhaupt erst zu Gott und in diesen Beruf geführt haben. Denn John Strelecky hat keine Antwort für mich, was der Zweck meiner Existenz ist – er versucht sie ja auch gar nicht erst, weil er ja behauptet, die müsste jeder für sich ganz alleine finden. Er hat das angeblich geschafft – was mich sehr für ihn freut. Wirklich. Ich kann nur nicht behaupten, dass es mir ebenso ergangen ist. Ich habe in mir selbst keine tragende Antwort gefunden, als ich den Sinn des Lebens gesucht habe – geht es übrigens nur mir so, dass ich den Begriff „Zweck“ ganz schrecklich und viel zu funktional finde und liebe vom „Sinn des Lebens“ spreche? In mir und meinem Streben Glück lag er nicht. Ich habe ihn woanders gefunden. Bei dem, den Strelecky nicht mit einer Silbe erwähnt, dem er keine Zeile widmet, der höchstens einmal durchscheint bei diesem Sonnenuntergang in Costa Rica, der dem weisen Küchenchef Mike das Gefühl vermittelte, mit seiner Existenz nur ein kleiner, flüchtiger Teil von etwas Größerem, Ewigem zu sein.

Auch Jesus hat den Menschen gerne Fragen gestellt, große Fragen wie „Was willst du, was ich dir tue?“. Oder „Warum habt ihr solche Angst?“. Oder: „Was sucht ihr?“

Aber ganz viele seiner Fragen fragen nach Beziehung: „Für wen haltet ihr mich?“. „Warum verfolgst du mich?“ oder auch dieses „Liebst du mich?“. Das Christentum ist in seinem tiefsten Inneren eine Beziehungsreligion. Eine, deren höchstes Gebot die Liebe ist – die zu sich selbst, die zum Nächsten und die zu Gott. Die Liebe zu sich selbst, die uns nach einem erfüllten Leben suchen und fragen lässt und manchmal auch finden. Die Liebe zum Nächsten, die uns in manchen Momenten verrückt selbstlos sein lässt und Erfüllung im Glück eines anderen finden. Und die Liebe zu Gott, die aus völlig unerfindlichen Gründen Erfüllung darin findet, sein Kreuz auf sich zu nehmen und ihm nachzufolgen. Sein Leben zu verlieren, um es eben dadurch zu gewinnen. Sich Schätze im Himmel zu sammeln und der Angst vor dem Tod nicht mit meinem erfüllten Leben sondern mit seinem erfüllten Versprechen zu begegnen. Darin liegt für mich der Sinn des Lebens, liebe Gemeinde. Der „Zweck meiner Existenz“, um mit John Strelecky zu sprechen. Gott zu lieben und meinen Nächsten wie mich selbst. Das ist die beste Antwort, die ich persönlich je gefunden habe auf die Frage: „Warum bist du hier?“

Und der Friede Gottes…